Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
herausfordernd an. »Wem?«
»Spiel nicht die Närrin! Seiner Majestät. Wem sonst? Unserem« , er verweilte bei diesem Wort und hob mit fein dosiertem Hohn die Brauen, »König und Verteidiger des Glaubens. Komm, er will dich wieder empfangen. Du machst deine Sache gut.«
Der Herzog von Northumberland bot ihr den linken Arm. Zögernd legte Cass ihre Hand darauf. Er schenkte ihr ein Lächeln, das arglosen Zeitgenossen das Gefühl gab, sie seien der einzige Mensch, mit dem der mächtige Mann sich gern befasste.
Cass errötete. Lord Dudley registrierte es mit Befriedigung und geleitete sie wie eine Königin zum Kirchenportal. Er ahnte nicht, dass weder Freude noch Dankbarkeit Cass’ Wangen färbte, sondern Wut.
War das die Antwort auf ihre Gebete? Nun ja, nicht gerade Gebete.
»Ich habe den König ermuntert, mit dir über seine Großcousine Jane Grey zu sprechen«, sagte der Herzog von Northumberland, während er einen schweren Türflügel aufzog. »Deine Freundin aus Kindertagen.« Wie flüssiges Gold flutete Morgenlicht in das Dunkel der Kirche und blendete Cass. Sie hob die Hände und wandte ihr Gesicht ab.
»Jane Grey? Aber ich kenne sie kaum. Ich habe sie zuletzt gesehen, als wir beide acht oder neun Jahre waren.« Zehn, um genau zu sein, aber es gab Daten und Menschen, die man besser vergaß. Sie hatte viel zu vergessen. Jane Grey, die Großnichte von Heinrich dem Achten, gehörte dazu.
»Was du von ihr kennst, wird genügen. Lobe ihre Glaubensfestigkeit, betone, wie sehr du sie verehrst, deute an, dass du sie für den Inbegriff von Frömmigkeit und allen Tudor-Tugenden hältst.« Dudley hielt die Tür mit der flachen Hand auf, sein rechter Arm bildete einen Bogen. Cass schlüpfte hindurch.
Der süße Duft früh blühender Pfirsichbäume, die den Kiesweg zum Palast säumten, füllte die Luft, im Gebüsch zankten Amseln. Sie nahm nichts davon wahr. Vor ihren Augen loderten Flammen, sie meinte das Knacken von Holz zu hören, das Knistern von Ketzerreisig. Wie aus dem Nichts quoll der überwältigende Gestank brennenden Fleisches in ihre Nase. Jane Grey, noch schmächtiger als sie, hatte direkt neben ihr gestanden und denselben fettigen Geruch – vermischt mit Qualm aus Weihrauchfässern – geatmet. Das pestilenzialische Gemisch würde für sie auf immer mit dem Namen Jane Grey verbunden sein. Genau wie die Erkenntnis, dass Ähnlichkeit in Schicksal und Glauben nicht notgedrungen Freundschaften stiftete.
»Wen Gott liebt, den straft er«, hörte sie das zirpende und eifernde Stimmchen der zehnjährigen Jane in ihrem Ohr. »Sieh nur hin, sie stirbt ohne Schrei. Was für ein Triumph unseres Glaubens. Ich wünschte, ich würde die Reitpeitsche meines Vaters so klaglos hinnehmen können, wenn er mich über der Bibel erwischt.« Die blasse Jane war geradezu aufgeblüht und zutraulich geworden. »Hätte ich nur eine Mutter wie deine, Cass Askew! Du musst so stolz auf sie sein! Sie liebt Gott mehr als alles, was diese fade Welt zu bieten hat.«
»Stolz?«, fragte mit arglosem Staunen das ferne Echo ihrer eigenen Kinderstimme. Es war frei von dem Entsetzen, dass sie empfunden haben musste, während die Flammen Bußkleid, Haar und Leib der Frau am Pfahl in eine lodernde Fackel verwandelten. Diese Frau war in ihrer Erinnerung nicht mehr als eine Fremde. Was lag ihr daran, die Tochter einer Märtyrerin zu sein? Anne Askew hatte schließlich nie Wert darauf gelegt, ihre Mutter zu sein! Mit fünfzehn gegen ihren Willen verheiratet, mit sechzehn ebenso unfreiwillig schwanger, hatte Lady Askew sich dem Kampf für den neuen Glauben zugewandt, die Scheidung von ihrem Mann verlangt und Cass – im Namen Jesu und der Wahrheit – den Dudleys anvertraut.
Um Trost zu finden, hatte sich Cass seither bevorzugt an den rächenden Gott des Alten Testaments gewandt. Dem hätte die beflissene Demut der kleinen Jane Grey nicht gefallen, und ihrer Mutter hätte er gellende Schreie der Wut und des Schmerzes verziehen, auch wenn diese selbst es nicht getan hatte.
Wie versteinert verharrte Cass unter dem Gnadenportal.
»Nun komm schon, du musst nicht dein ganzes Leben in einer Kirche vertrödeln ...« Dudley stieß sie auf den gekiesten Vorplatz. Ein sirrendes Zischen zerschnitt die Luft. »Zur Hölle!«
Cass riss den Kopf herum. Dudley hielt sich die rechte Wange, Blutstropfen sickerten in seinen safrangelben Handschuh. Ein hart und genau geschleuderter Stein hatte ihn getroffen. Der Lord drehte erbost den Kopf nach allen Seiten,
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