Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
die sie der Macht nahe brachte.
»Die ausgefallenen Brauen und die Magenkrämpfe verwundern mich«, sagte sie laut. »Wann begannen Edwards Haare auszufallen?« Sie griff nach den blauschwarz verfärbten Händen des Kranken. »Und seine Fingernägel!«
»Vor etwa vier Wochen, als ich ihn kämmte, fielen mir erstmals Büschel seiner Locken in den Schoß! Aber da schien er erstaunlich gesund zu sein, er blühte sogar auf. Erst in den letzten beiden Tagen wurde er beinahe vollständig kahl.«
Lunetta ließ ihre Augen über den Nachttisch gleiten, auf dem sich Tiegel, Fläschchen, Räucherwerk und Klistiere aneinanderreihten. An einem tönernen Töpfchen blieb ihr Blick hängen. Sie griff danach, hob den Korkdeckel und sog den Duft ein. »Was ist das?«
Sidney runzelte die Stirn. »Ein Salbe aus Skorpionöl, Moschusochsentalg und orientalischen Ölen. Sie soll die Wunden schließen und den scheußlichen Geruch von Verwe- ... Nun ja, den Geruch ... bekämpfen. Der König bat mich, sie mit Patchouliöl zu beduften, dass ihm de Selve geschenkt hat. Ist Patchouli ein Gift?«
»Nein. Es vermag Motten und einiges Ungeziefer zu vertreiben. Die anderen Zutaten bewirken nichts.« Lunetta schüttelte den Kopf. »Wer gab dem König diese Salbe?«
»Es war ...«
Der harte Tritt von Stiefeln unterbrach ihn.
»Die Wachen!«, flüsterte Sidney. »Ihr müsst verschwinden.«
Lunetta ließ das Töpfchen in ihren Leinenbeutel gleiten. »Ich kenne jemanden, der uns Auskunft über die Bestandteile dieser Salbe geben kann.« Sie erhob sich betont langsam.
»Macht schon, geht!«
»Nicht bevor Ihr dafür sorgt, dass ich eine Audienz beim spanischen Botschafter Scheyfve bekomme! Ich will hören, was er über Samuel weiß.«
»Ich weiß nicht, wo Scheyfve sich aufhält.«
»Er liebt Feste und wird da sein, wo der Rest des Hofes hindrängt, bei der Hochzeit von Jane Grey.«
»Ich kann Euch dort unmöglich hinbringen«, wehrte Sidney ab. »Scheyfve wird Euch ohnehin nicht mehr viel nutzen. Er ist nur noch wenige Wochen im Amt. Der Kaiser hat seinen Nachfolger schon bestimmt. Simon Renard.«
»Scheyfve ist der Dienstherr meines Sohnes. Besorgt mir ein schnelles Pferd. Ich werde allein nach Durham Palace reiten.«
Sidney lauerte an der Tür. Er schüttelte den Kopf. »Allein könnt Ihr nichts ausrichten.«
»Ich habe in meinem Leben schon weit gefährlichere Dinge getan.« Lunetta reckte das Kinn. Die Stiefeltritte wurden lauter, schon hörte man die Stimmen der Wächter. Sidney drängte Lunetta zu der geheimen Tür.
»Geht, geht! Ihr spielt mit Eurem Leben!«
»Und mit Eurem«, erwiderte Lunetta kalt. »Es wäre Eurem Ansehen bei Hof kaum förderlich, wenn man Euch mit einer Kräuterhexe am Bett des Königs entdecken würde! Euer Schwiegervater Dudley würde keine weitere Erklärung verlangen, bevor er Euer Todesurteil gegenzeichnet. Also, wo ist mein Pferd?«
2.
Er musste endlich von hier weg! Und erst recht das Mädchen! Lange würde sie den Quälereien von Joshua Painbody nicht mehr standhalten. Der ehemalige Folterknecht verlor langsam die Geduld mit einer Beute, die sich nicht versilbern ließ.
Hurenscheiße! Vielleicht ergab sich heute eine Möglichkeit, ihm zu entfliehen. Der König der Themsekais plante einen großen Beutezug, bei dem jeder auf eigene Faust arbeiten würde. Da wäre er unbeobachtet. Nats Blick fiel auf Cass, die, an eine Mauer gelehnt, schlief. Sie schien zu frieren. Behutsam zog er den Kittel, den sie trug, enger über ihrer Brust zusammen. Im Schatten des Brückenbogens war es kalt, selbst an diesem strahlenden Maitag. Der Morgendunst saß noch in den Ritzen des Mauerwerks. Er verdichtete sich zu Wasserrinnsalen, die vom Gewölbe und von den Pfeilern rieselten. Ein qualmendes Feuer aus Schwemmholz spendete kaum Wärme.
Das Rauschen des zwischen den Pfeilern durchschießenden Flusses betäubte die Ohren und versetzte Painbodys Schar in einen ewigen Dämmer. Kreisende Branntweinkrüge taten ein Übriges. Erst das Dröhnen von Trommeln und der Schall von Fanfaren brachte Bewegung in den Haufen.
Nat sprang auf die Füße, lief zur Kante des Brückenfundaments und spähte flussabwärts. Er kniff die Augen zusammen und suchte einen Wald von Schiffsmasten ab, der die Themse bedeckte. Wie immer waren östlich der Brücke unzählige Schiffe vertäut: venezianische Galeeren, spanische Galeonen, niederländische Koefs, dazu die Boote von Austernfischern und Pennyfähren. Der Junge sah, dass die Fahrrinnen in
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