Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
»Ich weiß es wirklich nicht.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Ja, sie kannte ihren Vornamen, sie kannte sogar einige der Gassen rund um die London Bridge, die sie in den vergangenen Tagen mit Painbodys Bande auf der Suche nach essbarem Abfall oder prallen Geldkatzen durchstreift hatte. Sie wusste, sie war in der City von London, sie erkannte die Gerüche der Stadt, das Gerumpel von Kutschrädern war ihr ebenso vertraut wie der Anblick knarrender Wirtshausschilder und die Zunftwappen der Werkstätten.
Aber mit nichts von alledem verband sie Erinnerungen oder Gefühle, dass sie dorthin gehörte. Es war, als habe sich eine Tür zu ihrem Gedächtnis verschlossen, der Zugang zu ihrem Leben, zu allem, was einen Menschen ausmachte. Mit niemandem, auch nicht mit sich selbst fühlte sie sich verbunden. Ihr Kopf glich einem unbewohnten Haus voller leerer Zimmer, ihre Gedanken waren unbeseelte Gegenstände, die sie betrachten und benennen, aber nicht fühlen konnte.
All das ängstigte sie ohnehin schon, aber zusätzlich lag über allem eine tiefe, bedrohliche Furcht. Todesfurcht, die bei Nacht in Bildern lebendig wurde. Sie sah einen Turm, eine Gestalt, die nach ihr griff, eine andere, die an ihr zerrte, und dann fiel sie.
Sie besaß nichts, was an ihr vergangenes Leben erinnerte, außer dem Flachshemd unter dem Kittel und ... Sie tastete vorsichtig nach dem seltsamen und kostbaren Stein, den sie im Hemdsaum verborgen hatte. Eine innere Stimme riet ihr, diesen Stein nicht an Painbody weiterzugeben – er würde nur noch mehr verlangen.
Rasch ließ Cass ihre Hand wieder in ihrem Schoß verschwinden.
»Ich weiß es nicht«, äffte Painbody sie nach. »Willst du mit dieser dünnen Lüge mein Mitleid erwecken?«
Cass schaute ihn wie aus weiter Ferne an. Dieser Mann war widerlich, aber sie wusste, dass er nicht der Grund für ihren elenden Zustand war und auch nicht für ihre tiefsten Ängste. »Ich lüge nicht, und ich weiß, dass ich hier nicht hingehöre.«
»Und wohin dann?«
Greenwich, dachte Nat, aber das musste sein Geheimnis bleiben, bis er einen Weg gefunden hatte, mit Cass von Painbody wegzukommen, und auch dann wäre der Palast sicher nicht der richtige Ort für dieses Mädchen. Den konnte allein Master Enoch wissen. Es war ein Fehler gewesen, Cass herzubringen, aber er hatte sie aus dem Fluss gezogen und Hilfe benötigt, um sie vom Ufer wegzutragen.
»Vielleicht sollten wir es mit einem Gefängnis versuchen«, schlug Painbody mit listigem Blick vor. »Oder mit dem Tollhaus von Newgate? Wärst kein schlechter Augenfang, so blutjung unter den schreienden und sabbernden Irren. Nat, was meinst du, du treibst dich doch ständig dort rum?«
Der Junge nickte, froh darüber, die Aufmerksamkeit von Painbody auf sich zu lenken. »Soll ich mit ihr hingehen?«, fragte er vorsichtig.
Der König der Kais richtete sich auf und lachte. »Ah, ich wusste, dass du mir entwischen willst. Aber du gehörst mir! Der elende Prophet hatte mir reiche Beute versprochen, stattdessen hat er dich wochenlang durch die Gegend gehetzt, ohne das sonderlich viel dabei rausgesprungen ist.«
»Ich hab immer was abgeliefert«, protestierte Nat.
»Das meiste hast du für Vergnügungsfahrten auf dem Fluss verplempert. Der Prophet ist ein Schwätzer. Hab dem Kerl nie getraut, schon im Tower nicht. Der schien jede Folter zu genießen.« Er musterte Cass, die unbeeindruckt zu sein schien, egal, wie sehr man sie quälte.
»Hm, man könnte ihre Haare versilbern. Die reichen ja bis auf den Hintern. Kenn da einen Perückenmacher.« Er riss an einer Strähne und legte sein Schabemesser an. Cass schrie auf.
Nat drängte sich dazwischen. »Lass sie endlich in Ruhe, Joshua«, warf er tapfer ein. »Sie ... Sie steht unter meinem Schutz.« Mit dünner Stimme setzte er hinzu: »Der Verkauf ihrer Gewänder könnte uns ein hübsches Sümmchen bringen.«
Der strahlende Klang einer Fanfare riss Painbody herum, er kniff die Augen zusammen und erkannte Schiffe des Hochzeitszuges auf dem Fluss.
Er beeilte sich, seine Kumpane mit Fußtritten zu wecken. Nat drängte sich näher an die zitternde Cass heran.
»Wir müssen hier weg! Begreif es endlich!«, flüsterte er. Cass tastete nach seiner Hand und drückte sie mechanisch. Sie wusste, dass dieser Nat es gut mit ihr meinte, aber seine Zuneigung erzeugte kein Echo in ihr. Hatte sie immer ein so kaltes Herz besessen, das nur dann schneller schlug, wenn sie Angst hatte? Oder hasste sie alle Menschen?
»Was
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