Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
der Mitte frei gerudert und Schiffe dichter an Kais und Anleger gezogen wurden.
»Sie kommen!«, rief er. »Der Hochzeitszug! Sie werden gleich die letzte Biegung nehmen!« Mit Kennermiene prüfte er die Strömung. »In einer Viertelstunde werden sie in Sicht sein, in weniger als einer halben die Brücke passieren.«
Er wusste, dass er recht behalten würde. Schließlich ging er seit Jahren seinem Geschäft als Themseschwalbe nach. Selbst bei Nacht konnte er jedes Treibgut ausspähen, und an ruhigen Stellen zog er lohnenden Abfall mit Eisenstangen aus der Flut.
Am meisten Wert legte Joshua Painbody auf ertrunkene Bootsmänner, die ein Opfer der Stromschnellen vor der Brücke geworden waren. Fette Beute, falls der Schiffer Fährlohn bei sich trug. Noch lukrativer war das Auffischen eines Schiffsgastes, der dumm oder betrunken genug gewesen war, nicht auszusteigen, bevor die Pfeiler passiert wurden. Vernünftig war, wer vor der Brücke ausstieg, sie zu Fuß umging und den Kampf mit den Stromschnellen dem Fährmann überließ. »Aber wer ist in dieser Stadt schon vernünftig?«, pflegte Painbody zu sagen. Sicher war die Flusspassage allein in der Mitte der London Bridge und in festen Barken und Schiffen, doch das Heben der Zugbrücke kostete Geld und Zeit.
Nat drehte sich zu der schlafenden Cass um. »He du! Wach auf! Wir gehen heute nach Westminster.« Verstohlen schaute er sich um und senkte die Stimme. »Im Getümmel dort können wir endlich entkommen.«
Cass öffnete langsam die Augen. »Wohin?«
»Lass das mal meine Sorge sein, ich kenn einen, der uns Geld geben kann.«
Cass’ Blick blieb seltsam entrückt und teilnahmslos, sie schien wie losgelöst zu sein von diesem Ort. Um ihren Kopf waren schmutzige Lumpen gewunden, sie trug einen unförmigen Kittel aus Sackleinen, unter dem ein Flachshemd vorblitzte, ihre Füße waren mit Lederfetzen umwickelt.
»Ich bin müde«, sagte sie endlich. »Ich will nirgends mehr hin.«
Der Junge verzog verärgert die Stirn. »Aber ich. Und du wirst mitkommen, hörst du? Ich ...«
»Nat, du Ratte, was hast du wieder mit dem Mädchen zu tuscheln«, mischte sich heiser ein schmieriger Hüne in Gerberkluft ein. Painbody rappelte sich hoch. Der Mann hatte ein knochiges Gesicht mit einer Nase, deren Krümmungen verrieten, dass sie mehr als ein Mal gebrochen sein musste. Er entriss einem Bettler den Branntweinkrug, tat einen Zug und kam auf die Beine. Cass drängte sich dichter an die Mauer.
Der König der Themsekais zog seinen Fellschurz zur Seite und pinkelte in den Fluß, dann wischte er sich die Hände am Schurz und rülpste. Die üblichen Verrichtungen seiner Morgentoilette.
»Es wird Zeit, aufzubrechen«, sagte er und wandte sich Cass zu. »Deine Schonzeit ist vorbei. Du wirst uns diesmal begleiten und zwar zum Betteln. Noch keinen einzigen Penny hast du uns dabei eingebracht.«
»Ich bin eben keine Bettlerin«, sagte Cass tonlos.
»Was auch immer du bist. Faulenzer können wir nicht gebrauchen.« Grinsend betrachtete er Nat. »Sag ihr, wie wir es mit Faulenzern und Verrätern halten.«
Der Junge biss sich auf die Lippen.
»Mach schon!«, bellte Painbody und hob seine prankengroße Hand zum Schlag.
»Sie werden gebunden und in den Fluss geworfen«, presste Nat zwischen den Zähnen hervor.
»Genau. Oder wir machen sie bettelreif.«
Er riss ein Schabemesser unter seinem Handwerkerschurz hervor und trat auf Cass zu. »Eine abgetrennte Hand, durchschnittene Kniesehnen, das vermag in manchen Fällen das Mitleid der Brückenbürger zu wecken. Dazu dein blasses Dämchen-Gesicht. Nun ...?«
Cass verharrte reglos bei der Mauer. »Ich werde euch nicht bei Diebestouren begleiten«, protestierte sie schwach. »Ich bin nicht wie ihr.«
Der Gerber beugte sich drohend zu ihr hinunter. »Wie bist du denn dann? Zu vornehm, um uns deinen Namen zu verraten, hä? Nun, wir sind nicht vornehm und müssen schauen, wo wir bleiben. Wenn es freilich einen gäbe, der ein Lösegeld für dich zahlen könnte ...«
»Ich habe dir schon mal gesagt, mein Name ist Cass, und mehr weiß ich nicht.«
»Cass von Katherine?«
»Nein«, sie runzelte die Stirn, während sie sich bemühte, einen aufblitzenden Gedanken zu fassen. »Von Cassandra«, sagte sie schließlich. Ja, Cassandra war richtig, das wenigstens wusste sie. Irgendwann einmal war sie auf diesen Namen getauft worden.
»Und weiter?« Der Gerber fixierte sie mit blutunterlaufenen Augen.
»Ich ... Ich weiß es nicht«, stammelte Cass.
Weitere Kostenlose Bücher