Das Tattoo
Boden lag. Dass eine Kaffeetasse zu Bruch ging, passierte schon mal. Aber dass Frankie die Bescherung nicht aufgeräumt hatte und einfach weggegangen war, war mehr als seltsam. Plötz lich stieg Panik in ihm auf, seine Atemzüge wurden schneller und flacher, bis er schließlich merkte, dass er nach Atem rang.
Er wirbelte herum und rannte aus der Küche, immer wieder nach Frankie rufend.
Durch das Wohnzimmer.
Über den Flur.
In ihr gemeinsames Schlafzimmer.
Das Bett war noch genauso zerwühlt wie am Morgen, als er das Haus verlassen hatte. Er versuchte seine Panik in den Griff zu bekommen, indem er sich ganz bewusst daran erinnerte, wie er vor wenigen Stunden noch hier mit ihr geschlafen hatte.
Sein Hemd, das sie während der Nacht getragen hatte, lag ne ben dem Schrank auf dem Fußboden, so als ob sie sich in aller Eile angezogen und es dabei achtlos fallengelassen hätte. Das Schlafzimmer so unaufgeräumt zu hinterlassen, war für Frankie absolut untypisch. Sie war sehr ordentlich, beinahe schon pinge lig. Ungläubig schüttelte er den Kopf, dann ging er ins Bad. Als er das verschmierte Blut am Rand des Waschbeckens sah, blieb ihm fast das Herz stehen.
„Großer Gott”, flüsterte er und spürte, dass er weiche Knie bekam. „Heilige Mutter Gottes, bitte nicht.”
Auf zitternden Beinen lief er durch das Haus. Seine Finger fühlten sich an wie Eiszapfen, und es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er immer noch die Eispackung umklammert hielt.
Auf dem Weg zur Tiefkühltruhe sagte ihm irgendetwas - ent weder sein Instinkt oder eine böse Vorahnung -, dass er außer dem Telefon besser nichts anrühren sollte.
Er warf die nun vollends durchgeweichte Tüte auf den Kü chentisch und griff nach dem schnurlosen Telefon, das auf dem Schränkchen daneben lag. Er versuchte sich einzureden, dass er sich in etwas hineinsteigerte. Dass Leuten wie ihnen so etwas nicht passierte. Frankie, die in einer Bibliothek arbeitete, hatte heute eigentlich ihren freien Tag, aber vielleicht war sie ja für eine krank gewordene Kollegin eingesprungen? Vielleicht war sie ja bloß zur Arbeit gegangen und hatte sich beeilen müssen?
Nachdem er die Nummer gewählt hatte, schloss er die Augen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen.
„Stadtbibliothek Denver, Mary Albright,” meldete sich die Stimme am anderen Ende.
Er sah die Frau mittleren Alters mit den leuchtend kupferro ten Haaren vor sich. „Hallo, Mary, hier ist Clay. Ist Frankie da?”
„Frankie? Nein, die hat doch heute frei. Sie kommt erst übermorgen wieder.”
Der Hoffnungsschimmer erlosch. „Ja, ich weiß”, erwiderte er. „Ich dachte bloß … dass vielleicht jemand krank geworden ist.”
„Nein, tut mir Leid, Clay. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?”
Er erschauerte. „Ich weiß nicht.” Dann legte er einfach auf und wählte die nächste Nummer
„LeGrand,” meldete sich seine Mutter.
„Hallo, Mom, ich bin’s, Clay. Frankie ist nicht zufällig bei dir, oder?”
Betty LeGrand stutzte, als sie die Panik in der Stimme seines Sohnes hörte.
„Nein, hier ist sie nicht. Seit gestern Vormittag habe ich nichts mehr von ihr gehört.”
„Und Dad?”
„Oh, der bestimmt auch nicht”, gab Betty zurück. „Ich bin sicher, dass er es mir erzählt hätte, wenn er …”
„Frag ihn.”
„Aber Clay, ich…”
„Verdammt, frag ihn einfach, okay?”
Betty zuckte zusammen. „Ja, sicher, Clay. Eine Sekunde.”
Er wartete und versuchte sich einzureden, dass alles nur ein böser Traum war.
„Clay?”
„Ich bin noch dran, Mom.”
„Er hat auch nicht mit ihr gesprochen.”
Clay bekam so weiche Knie, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
„Okay, danke, Mom.”
„Nichts zu danken”, sagte Betty. „Können wir irgendetwas tun?”
„Nein … zumindest nicht, dass ich wüsste. Ach, und Mom
»Ja?«
„Entschuldige bitte, dass ich so unwirsch war.”
„Schon gut. Aber meinst du nicht, wir sollten nach ihr su chen? Vielleicht ist sie ja bei dem Wetter irgendwo mit dem Auto liegen geblieben.”
Er schloss die Augen. Sie hatten nur ein Auto, und mit dem war er am Morgen zur Arbeit gefahren. „Nein. Mit dem Truck war ich unterwegs. Ich muss jetzt Schluss machen, ich melde mich später wieder.”
Er wählte erneut und wartete ungeduldig, dass abgenommen wurde.
„911, wollen Sie einen Notfall melden?”
„Ich glaube, meiner Frau ist etwas passiert.”
„Ist sie im Moment bei Ihnen, Sir?”
Clay, der sich alle Mühe gab
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