Das Tattoo
Motor an und setzte zurück, um gleich darauf noch einmal anzuhalten und in den Rückspiegel zu schauen. Al les schien in Ordnung. Mit einem letzten Aufseufzen legte er den Vorwärtsgang ein und fuhr zur nahe gelegenen Schnellstraße.
Während der vergangenen zwei Jahre hatte er hart um seinen guten Ruf kämpfen müssen - um seinen eigenen und den der Fir ma. Die Polizei hatte Ermittlungen gegen ihn eingeleitet, und in den Medien hatte es immer wieder Hetzkampagnen gegen ihn ge geben. Obwohl natürlich niemand die immer nur hinter vorge haltener Hand ausgesprochenen Anschuldigungen beweisen konnte.
Eine Frau war auf mysteriöse Weise verschwunden, und ir gendwem musste man schließlich die Schuld daran geben. Da war es offenbar das Einfachste, sich an den Ehemann zu halten - und das war in diesem Fall Clay. Die Tatsache, dass es in seinem Le ben Nacht geworden war, schien außer ihn selbst und natürlich seine Eltern niemanden zu interessieren. Dieses bittere Resümee musste Clay ziehen, und es hatte ihn hart gemacht. Es gab nur noch selten etwas, das ihm unter die Haut ging. Und obwohl er sich nach einer Zeit des Rückzugs wirklich bemüht hatte, wieder im Leben Tritt zu fassen, war ihm das bisher noch nicht gelungen.
So wie an den meisten Tagen fürchtete er sich auch heute da vor, nach Hause zu kommen. Weil dieses Zuhause in Wahrheit kein Zuhause mehr war, sondern allenfalls noch ein Schlafplatz. Seine Eltern versuchten ihn schon seit Monaten zu einem Umzug zu überreden, aber er konnte sich noch nicht dazu entschließen. In diesem kleinen Fachwerkhaus war er früher einmal glücklich gewesen. Hier hatte er Francesca zum letzten Mal gesehen, und wenn er ginge, würde er diese Verbindung kappen. Dazu aber war es für Clay noch zu früh.
In den vergangenen beiden Jahren hatte er zahlreiche Stunden damit verbracht, kreuz und quer durch das Land zu reisen, um sich in allen möglichen Leichenschauhäusern nicht identifizierte Tote anzusehen. Irgendwann war dabei etwas in ihm abgestor ben. Er fuhr zwar immer noch hin, wenn er angerufen wurde, aber es berührte ihn von Mal zu Mal weniger. Inzwischen war es fast, als ob Francesca LeGrand nie existiert hätte. Wenn da nicht das Album mit ihren Hochzeitsfotos und die gähnende Leere in seinem Herzen wäre, würde er am Ende vielleicht selbst bald glauben, dass es sie nie gegeben hatte.
Vor ihm raste ein Feuerwehrauto mit heulender Sirene über eine Kreuzung. Clay schaute ihm nach, bis es nur noch ein ver schwommener roter Fleck auf der regennassen Straße war. Er runzelte die Stirn. Die Vorstellung, dass es bei einem solchen Wol kenbruch irgendwo brennen könnte, war einigermaßen bizarr, aber er wusste, dass es noch viel seltsamere Dinge gab. Wie zum Beispiel Menschen, die spurlos vom Erdboden verschwanden.
Wenig später bog er in seine Straße ein. Sobald sein Blick auf das kleine Fachwerkhaus fiel, verkrampfte sich sein Magen. Es war jedes Mal dasselbe. Und es war auch nicht besonders hilfreich, dass ein lokaler Fernsehsender ihren dritten Hochzeitstag letzte Woche zum Anlass genommen hatte, mit einem reißeri schen Beitrag, in dem es vor Spekulationen nur so wimmelte, an den Fall Francesca LeGrand zu erinnern. Da hatte offenbar je mand eine gute Gelegenheit gewittert, eine alte Geschichte noch einmal neu aufzuwärmen. Indirekt gab der Sender dem jungen, gut aussehenden Clay LeGrand immer noch die Schuld am Ver schwinden seiner Frau. Er war der Prügelknabe — und würde es wohl auch bleiben.
Er fuhr auf die Einfahrt vor seinem Haus und stellte den Mo tor ab. Statt jedoch auszusteigen, blieb er noch eine ganze Weile sitzen und lauschte dem Regen, der auf das Dach prasselte. Vielleicht hatten sie ja sogar Recht. Frankie war immerhin seine Frau gewesen, und er hatte es nicht geschafft, sie zu beschützen. Die sen Fehler würde er nie wieder gutmachen können.
„Himmel”, brummte er, als er aus dem Truck sprang.
Bis er die Veranda erreicht hatte, war er völlig durchnässt. Ei lig schloss er die Haustür auf, obwohl er sich auch heute wie jeden Abend vor dem Betreten des Hauses fürchtete.
Es war einfach so verdammt still geworden.
Clay gab sich einen Ruck, warf dann in der Diele seinen Schlüssel auf den Tisch und schaltete überall das Licht und im Wohnzimmer den Fernseher ein, um die Einsamkeit überhaupt
ertragen zu können. Anschließend ging er zurück in die Diele, um nach der Post zu sehen, die der Bote durch den Türschlitz steckte, aber dort lag
Weitere Kostenlose Bücher