Das Tattoo
das Bild vor ihrem geistigen Auge immer deutlicher he rausschälte.
Eine Sekunde später wurde sie gepackt. Sie verspürte einen heißen Schmerz im Nacken, als sie gegen eine Wand geschleudert wurde.
Sie hörte sich schreien: „Ich will nach Hause!”
Sie konnte seine vor Wut glitzernden dunklen Augen sehen, als er sie festhielt.
„Aber du bist zu Hause, Francesca. Du gehörst jetzt zu mir.”
Sie spürte, wie verzweifelt sie kämpfte, wie sie versuchte, sich gegen die Hände zu wehren, die an ihrem Hals lagen, doch verge bens. Sie keuchte. Sie bekam keine Luft mehr, drohte zu ersti cken.
„Lass … mich … los”, japste sie. „Ich will … nicht … ster ben.”
Und dann stieß sie ihn mit aller Kraft von sich weg, und er stürzte. Kopfüber die Treppe hinunter auf den Boden im Foyer.
Unter seinem Kopf bildete sich eine Blutlache, die sich über den von dunklen Adern durchzogenen weißen Marmorboden aus breitete und sich mit herunterfallendem Putz und Glasscherben vermischte.
Die Erde bebte wieder. Frankie schlug lang hin, schürfte sich Hände und Knie auf, als sie drei Stufen hinunterrollte, bevor es ihr gelang, ihren Fall aufzuhalten. Die Luft war jetzt voller Staub. Hinter dem Haus hörte sie eine Explosion. Sie rappelte sich müh sam auf und rannte ungeachtet ihrer Schmerzen die Treppe hi nunter - nur Sekunden, bevor diese in sich zusammenbrach. Un ten angelangt stolperte sie über den am Boden liegenden mensch lichen Körper und fiel wieder hin. Als sie den Kopf hob, sah sie dicht vor sich das Gesicht eines bewusstlosen Mannes.
Nur eine Sekunde später begann alles zu verblassen.
„Oh, nein”, murmelte Frankie und versuchte verzweifelt, die Bilder zurückzuholen. Sie schloss die Augen, versuchte, sich auf das Gesicht des Mannes zu konzentrieren. Sie brauchte eine Per sonenbeschreibung, mit der sie zur Polizei gehen konnte. Aber ihr Gedächtnis ließ sie im Stich. Frankie sah nur, wie das Revers seines Anzugs geschnitten war, als sie ihn auf den Rücken drehte und die Brieftasche aus der Innentasche seines Jacketts nahm.
Nach Luft schnappend riss sie die Augen auf. Das Geld! So war sie also an das Geld gekommen!
In der Hoffnung, es könnte ihr noch mehr einfallen, wenn sie das Geld berührte, rannte sie in die Küche. Doch als sie den Um schlag aus der Schublade nahm, hatte sie nur ein mulmiges Gefühl im Bauch, das war alles. Vielleicht brauchte sie die Pistole jetzt ja doch nicht mehr. Der Mann hatte tot ausgesehen. Aber ir gendetwas beunruhigte sie weiterhin, zerrte an ihrer Erinnerung. Wie war der letzte Moment auf der Treppe gewesen? Hatte er versucht, sie zu töten oder zu retten?
Sie schloss die Augen. „ Bitte, Gott, hilf mir, mich zu erin nern”, flüsterte sie, doch vergebens.
Sie umklammerte mit beiden Händen das Geld und drückte es wie eine Art Schutzschild an ihre Brust Ihre Gedanken wir belten wild durcheinander, aber konkret bekam sie nichts zu fas sen. Trotzdem reichte das, was sie vor Augen hatte, aus, um ihr Angst zu machen. Kurz darauf jedoch verwandelte sich diese Angst in eiskalte Wut. Sie ging schnell ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen.
Wenig später verließ sie das Haus und schaute sich nur flüch tig um, bevor sie mit schnellen Schritten zu dem Auto ging, das draußen am Bürgersteig parkte. Mrs. Rafferty, die auf der anderen Straßenseite gerade ihre Morgenzeitung hereinholte, winkte ihr freundlich zu. Daran hatte sich also nichts geändert. Mrs. Raf ferty stand morgens immer noch gern spät auf. Ihr Tag hatte of fensichtlich eben erst angefangen.
Frankie setzte sich hinter das Steuer. Kurz bevor sie den Wa gen anließ, schaute sie noch einmal auf den Zettel mit der Anschrift des Waffengeschäfts. Während der Fahrt wurde ihr klar, dass ihr zwar ein Teil ihrer Erinnerung fehlte, ihr Überlebenswille jedoch ungebrochen war. Wo immer sie auch gewesen sein mochte, hatte sie es doch geschafft, zu Clay zurückzukommen.
„So, Mrs. LeGrand, jetzt müssen Sie mir nur noch ein Auto gramm geben.”
Frankie unterschrieb die Rechnung, bevor sie langsam sieben Hundertdollarnoten abzählte und auf den Tresen legte, während der Verkäufer die Pistole in ihren Behälter und eine Tüte einpack te.
„Was brauchen Sie denn noch an Munition?” erkundigte sich der Mann.
Frankie schaute auf. „Keine Ahnung. Auf jeden Fall genug, um schießen zu lernen.”
Er langte nach einer Hand voll Schachteln und warf sie ebenfalls mit in die Tüte. „Das müsste für den Anfang
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