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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Kunde stolz, »darf ich Ihnen dieses kleine Meisterwerk zur Reparatur übergeben? Ich denke, es wird für Sie ein Leichtes sein, den Fehler zu finden. Es werden wohl nur zwei, drei Räder ausgedient haben, vielleicht ist auch nur die Feder lahm.«
    »Worum handelt es sich denn?«, fragte Jean-Louis und nahm das Okular ab.
    »Ich überlasse es Ihnen, das Biest aus dem Kasten zu nehmen. Ich will ja nichts kaputt machen. Sie haben da bestimmt ein feineres Fingerspitzengefühl.«
    Beim Wort »Biest« zuckte Jean-Louis zusammen, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Es war nicht das erste Mal, dass jemand in seiner Gegenwart dieses Wort benutzte, und jedes Mal fuhr ihm ein kalter Schauer über den Nacken, dann den Rücken hinunter, um sich schließlich in der Magengegend einzunisten und sich von dort mehrere Tage nicht mehr vertreiben zu lassen.
    Und so war es auch diesmal. Noch während er einen Stechbeitel von der Werkbank holte, um damit die oberen Latten der Kiste wegzustemmen, spürte Jean-Louis ein leichtes Frösteln im Nacken, dann ein Ziehen und Stechen, als grüben sich die Krallen eines unsichtbaren, großen Vogels in seine Schultern. Aber als er die erste Latte der Kiste gelöst hatte, stellte er schnell fest, dass seine Befürchtungen unbegründet waren. Denn zwischen dem aufgebrochenen Holz erschien nichts, was in ihm unerträgliche
Erinnerungen an Ana de la Tour hätte wachrufen können, sondern zuerst ein paar dunkelbraune Locken, dann ein ganzer kleiner Schopf, und darunter erkannte Jean-Louis den kleinen Körper jenes Automaten, von dem er schon viel gehört, den er jedoch noch nie selbst gesehen hatte. Vorsichtig löste er die übrigen Latten aus den Nägeln und legte den »Ecrivain« genannten Androiden frei. Eine knabenhafte Puppe, die, eine Gänsefeder in der rechten Hand haltend, mit nackten Schenkeln und Füßen, gekleidet in einen roten Rock mit weißem Halstuch, auf einem mit rotem Samt überzogenen Stuhl an einem kleinen Tisch saß, bereit, auf Geheiß des Meisters Buchstaben, Wörter, ja ganze Sätze auf das vor ihm liegende Papier zu schreiben. Zusammen mit den beiden anderen Androiden, dem Zeichner und der Musikerin, hatte der Schreiber erst in La Chaux-de-Fonds, dann in Paris und schließlich in ganz Europa Furore gemacht. Ein Werk von Pierre Jaquet-Droz aus La Chaux-de-Fonds, seinem allerersten Vorbild, jenem großen Uhrmacher, den Jean-Louis, zehnjährig damals und voller Uhrmacherpläne, bewundert und verehrt hatte. Oft genug hatte er an ihn gedacht und sich seiner Aufforderung erinnert, an die Freiheit seiner eigenen Phantasie und an die Kraft der Imagination zu glauben. Dieser Maxime war er gefolgt bis hierher, bis in diese dunkelste, finsterste Gasse von ganz Genf, in diese kleine, lichtlose Arkade, in welcher er seit mehr als zwei Jahren wie ein Arzt, jedoch über den Umweg der Mechanik, lebensmüde Herzen pflegte, tröstete und ins Leben zurückholte, indem er ihre Unruh wieder in Gang setzte. Bis hierher und bis zu diesem Tag hatte er Pierre Jaquet-Droz’ Aufforderung, genauso wie das Bündel Werkzeuge, mit
sich getragen und sie wie eine Notreserve im Hinterkopf behalten. Und nun, da er plötzlich vor diesem kleinen Wunderwerk seines ehemaligen Meisters stand, musste er feststellen, dass diese Notreserve wie altes Papiergeld längst nichts mehr wert war, dass ihre Zeit abgelaufen war. Beim kleinsten Versuch, sich daran zu erinnern oder an die eigene Phantasie und die Imagination zu denken, zerfiel dieser Gedanke, um sich dann in nichtssagenden Rauch aufzulösen. Und nun stand er mit dieser verblassten Bewunderung vor dem Werk des großen Meisters aus seiner Jugend, vor diesem international beklatschten und bestaunten Androiden, der, das wusste Jean-Louis, ohne sich den inneren Aufbau der Mechanik genauer anzusehen, über die Drehung eines Rades, dessen Zahnlängen die vorgegebenen Buchstaben übersetzten, zu schreiben imstande war.
    »Warum kommen Sie damit zu mir?«, fragte Jean-Louis den geduldig wartenden Kurier.
    »Das hat einen einfachen Grund«, erklärte der seltsame Herr, »Sie sind der einzige Uhrmacher weit und breit, der nicht eigene Erfindungen anpreist, sondern Räderwerke und komplizierte Konstruktionen anderer mindestens ebenso gut, wenn nicht sogar besser versteht und repariert als die Erfinder selbst.«
    Der Kunde warf einen schelmischen Blick auf die Rose Blanche im Fenster, und Jean-Louis wusste, was er damit meinte. Offiziell konnte man ihm nicht

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