Das taube Herz
offensichtlich verräterisch, dass Jean-Louis sich fragte, warum sich niemand darüber wunderte, warum sich niemand über die Lächerlichkeit dieses Androiden lustig machte, warum niemand mit einer richtigen, schreibenden Maschine dem ganzen Spuk der Schöpferphantasien ein Ende bereitete.
»Kann Herr Jaquet-Droz seine eigenen Automaten denn nicht mehr selbst reparieren?«, fragte Jean-Louis, fest entschlossen, den Kunden so schnell wie möglich abzuweisen.
»Herr Jaquet-Droz, müssen Sie wissen, hat seine drei berühmten Androiden verkauft. Ich bringe Ihnen den Ecrivain im Auftrag des neuen Besitzers, der jedoch nicht persönlich genannt werden möchte. Sie kennen ja das öffentliche Aufsehen, welches die drei Androiden des Neuenburger Uhrmachers immer wieder erregen. Der
neue Besitzer möchte damit nicht in Verbindung gebracht werden. Sie verstehen …«
»Tut mir leid, ich kann den Automaten nicht reparieren«, wiederholte Jean-Louis abweisend und wollte sich an seinen Arbeitstisch zurückziehen.
»Es handelt sich auch nicht um eine simple Reparatur«, sagte der alte Mann nun schnell und fasste Jean-Louis am Arm, damit er am Ladentisch bleibe. »Der Herr, der Ihnen diesen Androiden schickt, wünscht, dass Sie für den Schreiber auch einen neuen Text kreieren. Und er lässt ausrichten, dass Sie an der angebotenen Entlohnung ganz bestimmt Interesse zeigen würden.«
»Worum soll es sich denn handeln?«, fragte Jean-Louis und bereute diesen Fehltritt im selben Augenblick. Schon wollte er dem alten Mann den Mund stopfen und ihn zur Tür hinausprügeln, als dieser ein magisches Wort aussprach.
»Ana«, flüsterte der und wich vor Jean-Louis’ wilden Gesten zurück.
Jean-Louis erstarrte. Dann ließ er seine Arme wie kraftlos gewordene Waffen sinken, verzog sich hinter den Ladentisch und versuchte, in den Augen des Fremden eine Antwort auf die unausgesprochene Frage zu finden, Hinweise darauf, was dieser alte Mann wusste, was er ihm mitzuteilen hatte. Aber der dunkle, leicht glasige Blick des Alten verriet nicht mehr und nicht weniger als das eben gerade vollzogene Aussprechen des Namens.
»Ana de la Tour«, wiederholte er.
Jean-Louis wandte sich vom Ladentisch ab, hustete und rang nach Atem. Diesen Augenblick hatte er seit dem scheußlichen Duell der Schachautomaten in Paris herbeigewünscht
und gleichzeitig gefürchtet wie den Teufel. Mit aller Kraft hatte Jean-Louis die vergangenen Jahre hindurch jeglichen Gedanken, jegliche Erinnerung an Ana zu verdrängen versucht. Und jetzt, da dieser alte Mann mit der selbst zusammengenagelten Bretterkiste und dem ausrangierten Schreibautomaten vor ihm stand und den Namen Anas aussprach, war sofort alles wieder da: die Scheune, das Stroh, die Holz-, Stoff- und Schafwollreste, der Geruch nach Öl, Metall und Pferdemist, die platt gedrückten Stellen der Lagerstätten, seine eigenen Spuren im Lehmboden, wo die Grande Dame gestanden hatte, das Schnauben der Pferde, die Schimpfwörter der Burschen, das alles war noch da, als wäre es gestern gewesen. Und jetzt sah er alles wieder vor sich.
Als Jean-Louis damals mit Montalliers Gehilfen von Versailles in die Scheune zurückgekommen war, hatten sie die Scheune leer vorgefunden. Von Ana keine Spur. Sein Begleiter, ein großer, stämmiger Bretone, konnte schreien und auf ihn einschlagen, wie er wollte, Ana blieb wie vom Erdboden verschluckt. Den ganzen Nachmittag und den ganzen Abend bis spät in die Nacht hinein durchsuchten sie jede kleinste Ecke, warfen Erde auf, brachen Wände ein, durchstreiften die umliegenden Gemüsefelder. Erst am darauffolgenden Morgen brachte Montalliers Diener die Kunde der peinlichen Niederlage der Grande Dame, ihres kläglichen Schicksals und der lächerlichen Aufführung seines Herrn am Hof. Die Sache galt als so hoffnungslos verloren, dass die beiden Gehilfen sich Hals über Kopf in die Büsche schlugen und ihren Gefangenen allein in der Scheune zurückließen. Der Hoforgelbauer und Herausforderer der Technik und der Wissenschaften, Blaise
Montallier, Inventeur, war erledigt, die Grande Dame geplündert und gerupft wie ein altes Huhn, und Jean-Louis war plötzlich wieder frei. Aber jemand hatte ihm seinen Lebensgrund, sein Herz gestohlen, denn im Unterstand der Wagen und Pferde in Versailles, dort, wo Jean-Louis Ana wieder auffinden sollte, an dem Ort, den er sich für seinen Trick des Verschwindenlassens ausgesucht hatte, war Ana ebenso wenig wie in der Scheune. Bereits als Jean-Louis von den
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