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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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dieser konsterniert, aber gehorsam tat.
    Jean-Louis stand vor dem großen, mit Büchern und Papieren beladenen Studiertisch. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Der Abbé setzte sich und begann etwas in ein Heft zu notieren. Dann legte er die Feder nieder und blickte auf. Sein Blick war jetzt weniger böse, aber streng. Jean-Louis beobachtete, wie der Abbé eine Schublade am Tisch öffnete und etwas herausholte. Jean-Louis erkannte sofort sein eigenes Stoffbündel mit den Werkzeugen. Der Abbé legte es auf den Tisch und wickelte die Gegenstände aus.

    »Nun, Jean-Louis, erklär mir doch einmal, was dich dazu bringt, im Kerker eine Ratte zu fangen, diese in den Schlafsaal zu bringen, sie dort festhalten zu wollen, und was das alles mit diesen Werkzeugen hier zu tun hat, die Bruder Pius in deinem Bett gefunden hat.«
    Der Abbé lehnte sich in seinem Sessel zurück. Jean-Louis, überwältigt vom Anblick seiner Werkzeuge, die wie Beweisstücke eines Verbrechens ausgebreitet auf dem Studiertisch des Abbé lagen, holte zur Verteidigung aus. Zum ersten Mal seit den vielen Monaten, die Jean-Louis nun im Kollegium verbracht hatte, ließ er seinen Gedanken und Phantasien freien Lauf. All die inneren Monologe, die Beschwörungen und Ideen, die Konstruktionen und Pläne, all die Kraft und Begeisterung, die Jean-Louis seit Monaten mit sich herumtrug, stürzten in einem langen, schwärmerischen Plädoyer für die Mechanik aus ihm heraus. In allen Einzelheiten beschrieb er die Funktionsweise des Uhrwerks der Kirche zu Le Locle, erklärte in allen Details seinen Plan der Rekonstruktion der Uhr und der Stundenschläge, machte nicht halt vor den Auseinandersetzungen mit seinem Vater und dem innigsten Wunsch, den Meister Pierre Jaquet-Droz nach Spanien begleitet zu haben. Jean-Louis schilderte seine Begegnung mit dem Uhrmacher, die Bedeutung des Geschenks und die Worte des Meisters. Und nun, in den Gewölben der Unterweisung und des Gehorsams, spielten sein Geist, seine Phantasie und seine Konstruktionswut verrückt. Nicht weniger als den Beweis der Herrschaft menschlicher Intelligenz, des Verstandes und der Logik über Materie, Raum und Zeit verfolge er mit seinen Konstruktionen und Versuchen. Es müsse möglich sein, erklärte Jean-Louis feurig, die Grenzen der uns umgebenden
Welt zu überschreiten. Alles, was es dazu brauche, seien Ideen, Phantasie und ein paar Werkzeuge, um die Materie zu bearbeiten und in Bahnen zu lenken.
    Plötzlich lachte der Abbé. Dieses unerwartete Lachen riss Jean-Louis aus seinem Redeschwall. Schockiert realisierte er, dass er der höchsten Instanz des Kollegiums eben gerade seine intimsten Wünsche und Phantasien preisgegeben und wie sehr er sich lächerlich gemacht hatte.
    Aber statt für seine frevelhaften Gedanken getadelt oder gar bestraft zu werden, lachte der Abbé nur. Sein sonst so strenges, von Falten zerfurchtes Gesicht war beinah bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.
    »Ein Erfinder also!«, rief der Abbé aus, als er sich etwas erholt hatte, »ein Konstrukteur, ein Ingenieur, ein Wissenschaftler!«
    Abbé Lavière schaut ihn mit großen, hellen Augen an.
    »Daraus brauchst du kein Geheimnis machen, mein Sohn. Wir befinden uns hier an einer Lehranstalt! Die Vernunft, das Wissen, die Wissenschaft der Materie, die Kenntnis des Menschen, die Übung im Denken und die Anwendung der Mechanik, die man, wie du es eben gerade so schön geschildert hast, als das Denken der Materie bezeichnen könnte, sind die Gegenstände unseres Unterrichts. Ich bin nicht dein Vater, Jean-Louis, und meine Brüder sind es ebenso wenig. Wenn es dir wirklich ernst ist mit dem Gedanken, ein großer Erfinder zu werden, dann ist es in deinem vollen Interesse, dich für die Fächer zu interessieren, die wir hier lehren, statt dich mit Versuchen an Mäusen und Ratten aufzuhalten. Du brauchst das Rad nicht selbst neu zu erfinden. Lass dich erst belehren von all dem Wissen, das größere und stärkere Geister dieser
Welt bereits erarbeitet und zur Verfügung gestellt haben. Du wirst sehen, das wird dir viele Stunden mühseliger Experimentierkunst ersparen.«
    Abbé Lavière wickelte die Werkzeuge wieder zu einem Bündel zusammen.
    »Ich möchte, dass du mir etwas versprichst, Jean-Louis.« Der Abbé wog das Bündel in seinen Händen, als läge darin die Entscheidung über Jean-Louis’ Schicksal.
    »Versprich mir, mein Sohn, dass du dich fortan den Wissenschaften widmest, so wie du dich bisher deinen Konstruktionen gewidmet

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