Das taube Herz
würde es schwierig werden, die Ratten zu vertreiben.
Aber kaum hatte Jean-Louis den Spalt unter der Tür verbarrikadiert, kam ihm eine Idee. Die Kraft, die er von den Tieren gespürt hatte, war unvergleichlich viel größer als jene der winzigen Füße der Mäuse, die er gefangen hatte. Eine solche Ratte konnte das Vielfache davon leisten, was eine Maus im Wasserpumpengetriebe zustande brachte. In diesem Augenblick erkannte Jean-Louis den Sinn dieser Strafe. Jetzt wusste er, dass der Aufenthalt in diesem Kerker seine Ehre retten konnte. Zum Glück hatte er das Brot nur zur Hälfte gegessen. Er trank den Krug leer und legte ihn quer auf den Boden, so dass die Mündung ebenerdig auflag. Das Stück Brot legte er ganz nach hinten in den Krug, das Brotpapier knetete er zu einer Kugel und legte diese neben den Leckerbissen in das Tongefäß. Wenn die Kerze ganz heruntergebrannt sein würde, brauchte er ein akustisches Signal, das ihm meldete, wenn sich eine Ratte in den Krug begeben hatte. Er suchte sich einen Stein aus, mit dem er die Mündung der Falle verschließen konnte, baute die Barriere vor der Tür wieder ab und wartete.
Es dauerte lange, bis die Ratten zurückkamen, aber sie kamen. Kurz nachdem die Kerze ganz heruntergebrannt und erloschen war, hörte Jean-Louis das Knabbern und Trippeln, das Klopfen und Scharren der Nager wieder. Dann spürte er ein Zupfen an seinem Hosenbein, die Krallen, als das Tier über seinen Oberschenkel kroch. Jean-Louis zwang sich, still zu bleiben, sich nicht zu rühren. Und schon hörte er das Rascheln des Brotpapiers. Flink knallte er den Stein auf die Mündung des Krugs und hörte das Zappeln und Kreischen des gefangenen Tiers. Dass er sein Ziel so schnell erreicht hatte, überraschte ihn. Er stellte den Krug an die Wand und setzte sich daneben.
Aber nun begann erst der richtige Kampf. Sein Opfer war nicht allein gekommen. Zu seinen Füßen machte sich eine ganze Schar Ratten zu schaffen. Sie bissen in seine Schuhe, seine Hose, zerrten am Stoff, krochen von unten in seinen Hosenstoss und versuchten, ihre Nagezähne in sein Fleisch zu rammen. Jean-Louis sprang auf, schlug wild um sich, trieb die Tiere zur Tür zurück, wie er glaubte, denn im Dunklen konnte er nicht sehen, wohin sich die Angreifer verzogen. Kaum hatte er sich etwas beruhigt, setzten sie wieder zum Angriff an, kniffen ihn in die Beine, in die Arme, klammerten sich an seiner Hose, an den Schuhen fest, eine verhedderte sich sogar in seinen Haaren. So kämpfte Jean-Louis sich durch die Nacht. Die gefangene Ratte im Krug blieb sein einziger Triumph.
Als der erste Lichtschimmer durch den Schacht herunter in den Kerker fiel, verzogen sich die Ratten endlich, und Jean-Louis musste sich beeilen, eine Lösung zu finden, um seine Beute aus dem Kerker zu schmuggeln. Er zog Schuhe und Hemd aus, so als hätte er die Kleidungsstücke für die Nacht abgelegt. Dann holte er die Ratte aus dem Krug. Allein und von Jean-Louis’ fest entschlossenem Handgriff umklammert war sie ganz ruhig geworden. Er steckte das große, graupelzige Tier in seinen linken Schuh und wickelte sein Hemd darum herum.
Als Bruder Pius endlich die Eichentür aufschloss, stand Jean-Louis mit Hemd und Schuhen unter dem Arm bereit.
»Komm« sagte Bruder Pius rasch, »du gehst sowieso noch zur Toilette, kannst dich später anziehen, sonst kommen wir zu spät zur Messe!«
Und schon trabte Jean-Louis mit seiner in das Hemd eingewickelten Beute die Treppe hoch in den Schlafsaal,
steckte die Ratte mit einem Stück Brot in seine Ersatzhose und band diese mit einer Schnur am Bettgestell fest. Dort sollte sein zukünftiges Dressurtier den Tag ausharren, bis Jean-Louis abends Zeit fände, ihr ein Vivarium zu bauen. Aber noch vor der ersten Morgenpause platzte Bruder Pius in die Lateinstunde.
»Jean-Louis!«, schrie er und hielt ein zerfranstes Stück Stoff in die Höhe, »was denkst du, macht eine Ratte in deiner Hose?«
Schallendes Gelächter brach aus allen Mündern.
»Bisher habe ich beide Augen zugedrückt, aber jetzt reicht’s! Ratten im Schlafsaal, das hat uns gerade noch gefehlt!«
Die ganze Klasse kreischte, johlte und pfiff. Unter hochgehobener, von der Ratte zerfressener Hose und einem Hagel von Spott und Beschimpfungen folgte Jean-Louis Pater Pius und verließ den Unterrichtsraum.
Abbé Lavière blickte vernichtend, voller Verachtung, aber auch gelangweilt, in seiner Ruhe gestört. Dann machte er Bruder Pius ein Zeichen, den Raum zu verlassen, was
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