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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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hast.«
    Jean-Louis starrte auf das Bündel in den Händen des Abbé.
    »Ich verspreche es«, sagte er und erwiderte den strengen, fordernden Blick des Abbé.
    »Das Bündel mit den Werkzeugen behalte ich vorläufig als Pfand bei mir. Hältst du dein Versprechen, gebe ich es dir wieder zurück.«

7
    Zwölf Jahre später ritt Jean-Louis Sovary an der Seite eines schwer beladenen Wagens am Ufer des Neuenburger Sees entlang Richtung Westen. Über einhundert in Kisten und Stoffballen verpackte Pendeluhrengehäuse und Stuckaturenschnitzereien aus dem Atelier Sovary & Fils sollten nach Ferney in die Manufaktur Voltaires geliefert werden.
    Vier Reiter und ein Reservewagen hatten die beiden Reisenden bei der Überquerung der Jurahügel begleitet. Was anfänglich unter besten Wetterbedingungen als Warentransport von Le Locle aus gestartet war, führte direkt in einen Schneesturm. Die Wachsplanen mussten auf dem Wagen fester gezurrt werden, Mäntel, Hosen und Hüte waren erst nass geworden, dann vor Kälte zu steifen Hüllen eingefroren. Kurz vor Rochefort rutschten die Kisten und Stoffballen mit den Uhrengehäusen an einem steilen Abhang beinahe seitlich vom Wagen herunter. Das gesamte Fuhrwerk hätte kippen und über eine kleine, fatale Felswand hinunterstürzen können, und die Arbeit von mehreren Monaten wäre auf einen Schlag zerstört gewesen. Die Räder saßen fest, das Pferd musste ausgespannt und der Wagen rückwärts aus der Schräge gezogen werden. Niemals hätte Jean-Louis dieses Manöver allein überstanden, und er war froh um die sehr penible, bevormundende Begleitung der vier alten Herren, die sein Vater ihm auf die
Strecke mitgegeben hatte. Zum Glück erreichten sie vor Anbruch der Dunkelheit die Herberge in Boudry, wo sie sich bei Suppe, Brot und Wein vom Kälteeinbruch, aber auch vom Schreck über die beinah verloren gegangene Warenlieferung erholen konnten. Wilde Spekulationen, Anschuldigungen und Befürchtungen sprachen ihm, dem Studierten, der die vergangenen Jahre nichts als Bücher zwischen den Händen gehabt hatte, die Fähigkeit ab, einen solchen Transport zu führen, obwohl, darin waren sich auch die Alten einig, die schwierigste und gefährlichste Strecke überstanden war.
    Als die Wolken sich am frühen Morgen verzogen hatten, gelang es Jean-Louis, sich gegen die Befürchtungen seiner Reisebegleiter durchzusetzen, und Robert, der Kutscher, kaum älter als Jean-Louis selbst und ganz auf seiner Seite, schwang die Peitsche. Nun waren sie zu zweit unterwegs auf dem schmalen, ungefährlichen Weg, genossen die Wärme der aufziehenden Sonne im Gesicht, den Blick über den silber glitzernden Neuenburger See, die Stille des Morgens. Das Klappern der Hufe und Knarren der Holzräder klang wie Musik.
    Jean-Louis zog den Hut ab, öffnete den Mantel und atmete die kühle, frische Luft. Er war nicht unterwegs nach Spanien wie der Meister Jaquet-Droz damals, kurz bevor Jean-Louis ins Jesuitenkollegium geschickt worden war. Seine Lieferung bestand nicht aus Meisterwerken der Mechanik wie jene des Meisters, sondern aus hohlen, leeren Gehäusen, deren Reputation sich jedoch durch die jahrelange Perfektionierung des Handwerks seines Vaters bis nach Fribourg, nach Lausanne und nach Genf herumgesprochen hatte. In der Zeit, die Jean-Louis sich
im Jesuitenkollegium an lateinischer und französischer Grammatik abgearbeitet hatte, hatte sein Vater die Produktion der Uhrengehäuse verdoppelt. Er stellte einen Zuarbeiter im Atelier und einen Knecht auf dem Hof ein, verkaufte die Hühner und Schweine und vergrößerte das Atelier um den angrenzenden Hühnerstall, riss die Wand heraus, baute Schränke und zwei zusätzliche Werkbänke. Während Jean-Louis in Porrentruy der Faszination von Mathematik, Physik und Chemie erlegen war, hatte sein Vater den Werkzeugbestand seines Ateliers verdreifacht und im leer geräumten Schweinestall ein Holzlager angelegt. Während Jean-Louis sich in die Werke antiker Philosophen vertieft und sich an Poetik und Rhetorik versucht hatte, hatte sein Vater insgesamt mehr als hundert Ster Holz verschreinert.
    »Das soll mir mal einer nachmachen!«, hatte sein Vater stolz verkündet, als Jean-Louis, hoch gewachsen, kerngesund und voller Ideen aus dem Kollegium entlassen, heimkehrte. Das Vorhaben, aus Jean-Louis einen Pfarrer zu machen, war fehlgeschlagen, aber das schien seinen Vater nicht weiter zu stören. Die Uhrenproduktion im Neuenburger Jura war in Schwung geraten. Pierre Jaquet-Droz, der Held

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