Das taube Herz
aufgereiht eine ganze Sammlung von mittleren und großen aufklappbaren Eiern stand. Das wusste Jean-Louis, auch ohne sie zu sehen. Er griff nach dem dritten von links, einem dunkelblauen, in goldene Schlaufen gefassten Holzei, das er sich seit einigen Tagen auserkoren hatte, steckte es in sein Hemd und tappte schlafwandlerisch sicher zurück in seine Kammer in das noch warme Bett.
Aus einem Bündel, das am Fußende seines Bettes unter der Matratze verborgen lag, wickelte er die Werkzeuge, die er als Zehnjähriger von seinem Meister Pierre Jaquet-Droz erhalten hatte. Damit montierte Jean-Louis nun in geheimer Nachtarbeit einen Hirten und eine Magd in das aufklappbare Ei, zwei kleine Puppen, die, öffnete man das Ei, zur gleichzeitig erklingenden Melodie einen Reigen tanzten und, kaum war das Musikstück zu Ende, sich im Takt der schlagenden Stunden entsprechend oft verbeugten.
Dieses Szenario hatte er in wenigen Stunden mit einer alten Walze, dem dazugehörigen klingenden Stiftkamm und aus Draht gebogenen und mit Stofffetzen bezogenen kleinen Puppen gebaut, einzig und allein in der Absicht, einmal eine seiner geplanten Konstruktionen zu testen.
»Bauen wir etwa Schaubudenattraktionen! Sind wir ein Jahrmarktsartikelladen?«, schrie Maître Falquet fauchend vor Zorn, als Jean-Louis ihm das spielende Ei und seine Idee der animierten Schmuckuhren präsentierte. »Ich kreiere Schmuck, Sovary, kein Spielzeug, Uhren von höchster technischer und ästhetischer Qualität für den Adel, den Hof und andere gehobene Klientel! Diese Leute wollen sich schön kleiden und ihren Stand demonstrieren, die brauchen keinen Jahrmarktsbetrieb, weder an ihrem Hals noch auf dem Buffet des Empfangszimmers! Und nun gib mir dieses Ei zurück, schon dafür sollte ich dich bestrafen! Komm mir nur ja nicht wieder mit solchem Plunder!«
Jean-Louis stritt sich noch eine Weile heftig mit seinem Patron, denn er wusste, wie grundlegend Maître Falquet sich irrte und die Zeichen der Zeit verkannte. Aber schließlich interessierte es Jean-Louis nicht, den Adel zu unterhalten oder ihn mit Zeichen des Standes, des Prestiges und des Luxus zu dekorieren. Ihn interessierte einzig und allein die Herausforderung, zu welchen von Menschen vorgegebenen Aufgaben die Mechanik fähig war. Und wenn er seine Konstruktionen nicht ausführen und testen durfte, so konnte ihn dennoch niemand daran hindern, sie sich auszudenken und schriftlich festzuhalten. Vorläufig blieb ihm nichts anderes übrig, als sich seinem Schicksal zu fügen, tagsüber aus altem Uhrenramsch Fälschungen
zu bauen und nachts an seinen Erfindungen zu arbeiten. Er füllte einmal mehr Hefte und Bücher, notierte und verbesserte Ideen für Wasser- und Figurenspiele, verband Bewegungen mit musikalischen Glockenspielen, erdachte kleine Szenerien von sich bewegenden Hunden und Pferden, pfeifenden und fliegenden Vögeln, zeichnete Bogen schießende Faune, flötespielende Hirten, strickende Mägde und sich kämmende Hofdamen. Während Maître Falquet mit seiner qualitativ um ein Vielfaches verbesserten Rose Blanche Erfolge feierte, mit Bestellungen geradezu überhäuft wurde, nach und nach die anderen Schmuckstücke vernachlässigte und die Eifersucht Voltaires und der in Ferney installierten Hugenotten auf sich zog, arbeitete Jean-Louis Wochen und Monate an seinen Skizzen und Plänen, plante und berechnete die Mechanismen seiner Animationen bis in die kleinsten Verzahnungen der Räder, Wellen und Übersetzungen, so dass er, würde er eines Tages an die nötigen Rohmaterialien kommen, sie alle im Nu wie aus dem Nichts würde erschaffen können.
Die Arbeit an den Uhrwerken in Maître Falquets Schmuckwaren langweilte ihn schließlich so sehr, dass er sich dazu eine neue Arbeitsmethode ausdachte. Er unterteilte die Werkbank in fünf Bereiche und nahm jeweils fünf Arbeiten gleichzeitig auf. Dabei achtete er peinlich darauf, dass jeder Mechanismus sich in einem unterschiedlichen Stadium der Fertigung befand, um so der Öde der Repetition zu entgehen und sich wenigstens einer kleinen geistigen Herausforderung zu stellen.
Drei lange Jahre hielt Jean-Louis sich so in einem geistigen Gleichgewicht zwischen tödlicher Langeweile mit der Produktion der zur Massenware herabgesunkenen Rose
Blanche des Hauses Falquet, seinen geistigen Übungen an der Werkbank und den intellektuellen Ausschweifungen der nächtlichen Höhenflüge seiner Erfindungen und Phantasien. Bis eines Tages ein berittener Bote aus Paris eintraf,
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