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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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warteten, dass ihre Unruh wieder den Takt angab.
    Trotz der Aussichtslosigkeit, den anstehenden Aufgabenberg irgendwann angemessen bewältigen zu können, tauchte Jean-Louis in dieses Universum an Zahnrädern und Stiften, Wellen und Triebrädern, Zugfedern, Schrauben und Klammern ein wie in einen Traum. Sein ganzes Können, das er sich seit seiner Kindheit aus der regelmäßigen Demontage von Uhrwerken verschiedenster Arten und unterschiedlichster Herkunft angeeignet hatte, konnte sich nun endlich ungehindert entfalten. Als hätte Jean-Louis über viele Jahre hinweg eine Sprache gehört, sie unter Androhung der Todesstrafe jedoch nie sprechen dürfen, floss sein ganzes passives Wissen um die Konstruktion und die Funktionsweise einer zuverlässigen, genauen Uhr nun in seine hoffnungslose Arbeit für diese dem Untergang geweihte Werkstatt des Maître Falquet. Morgens, wenn sein Patron und ganz Ferney noch schliefen, baute Jean-Louis eines der funktionierenden Uhrwerke, die er am Vortag zusammengebaut hatte, in jenes Schmuckstück
ein, an welchem Maître Falquet bis spät nachts noch gearbeitet hatte. Nachmittags widmete er sich einigen anstehenden Reparaturen und der Vorbereitung von neuen Uhrwerken, die er aus dem Sammelsurium, das er in den Schubladen der Werkbank und in den umliegenden Regalen fand, zusammenbaute.
    Aber das Material war schlecht bis unbrauchbar. Die Zahnräder waren abgenutzt, viele Zugfedern überspannt und lahm, und oft war Jean-Louis mehr als unzufrieden mit der Qualität der Uhren, die er in die Schmuckdosen, in die in Silber gefassten Straußeneier, Broschen und Fingerringe einbaute.
    »Wenn Sie Ihre Schmuckstücke zu dem machen wollen, Maître Falquet, als was Sie sie verkaufen, nämlich zu Meisterwerken, dann rate ich Ihnen, sie mit richtigen Uhrwerken auszustatten!«, forderte er den Maître auf. Aber der wollte davon nichts hören. Seit über dreißig Jahren hatte Paul Irmiger mit dem vorliegenden Material Uhren zusammenbauen können, warum sollte das nun plötzlich nicht mehr möglich sein? Und zusätzliche Kosten kamen nicht infrage!
     
    Bereits am zweiten Arbeitstag machte Jean-Louis unter der Werkbank, wo er wie ein richtiger Uhrmacher das untere Ende seiner Schürze während der Arbeit aufhängte, um dadurch herunterfallende Kleinteile aufzufangen, eine Entdeckung von unschätzbarem Wert. Eine ganze Reihe Bücher musste seit vielen Jahren dort schön nebeneinander gestanden haben, denn so viel Staub hatte sich auf dem oberen Schnitt angesammelt, dass sie auf den ersten Blick kaum zu erkennen waren. Neben einem kleinen
Handbuch, das die wichtigsten mechanischen Konstruktionen verschiedener Uhrwerke erklärte, zwei Wörterbüchern und einem Lehrbuch der Mechanik handelte es sich ausschließlich um von Hand geschriebene Notizbücher, in denen sein Vorgänger Paul Irmiger in den ersten Jahren seiner Tätigkeit als selbsternannter Uhrmacher alle Modelle, die verschiedenen Übersetzungsarten der verzahnten Räder, die Konstruktionen der Hemmungen und Gesperre, die Feder- und Aufzugsmechanismen bis in die kleinsten Details aufgezeichnet und beschrieben hatte. Zu jedem Problem hatte er fein säuberliche Skizzen und Pläne angefertigt, überall die exakten Maße notiert. Ausführlich hatte er Legenden und Problembeschreibungen festgehalten, getroffene Entscheidungen und gefundene Lösungen erläutert. Diese Notizbücher nahm Jean-Louis eins ums andere mit in seine Kammer, in welche Maître Falquet ihn im Nebenhaus einquartiert hatte, und verschlang sie bis zur allerletzten Kritzelei. So konnte Jean-Louis nun, all dem, was er bis dahin durch die bloße Betrachtung und Analyse der in ihre Einzelteile zerlegten Uhrwerke gelernt hatte, Namen geben. Paul Irmiger hatte sich das Wissen aus verschiedenen Büchern zusammengetragen und in einem separaten Heft eigens einen Index und ein Glossar erstellt. So lernte Jean-Louis die Geometrie des mathematischen Pendels kennen, lernte daraus Pendellängen, Schwingungszeiten und Ansätze der Pendellinse zur Korrektur zu errechnen. Neben der ihm bereits bekannten Duplexhemmung lernte er nun auch die Zylinderund die Spindelhemmung kennen. Er arbeitete sich in die Geometrie der Verzahnung ein, lernte Begriffe wie »Eingrifflinie«, »Flanke« und »Wälzkreis« richtig einzusetzen,
studierte die Gesetze der Reibung, der Trägheit und des Einflusses der Temperatur auf verschiedene Materialien, und er lernte alles über die in der Uhrmacherei verwendeten, besonders

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