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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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resistenten Öle, die aus Olivenkernen, Delphinknochen oder Rinderklauen gewonnen wurden. Der Wissensdurst trieb Jean-Louis durch die Notizen Paul Irmigers, und sein Hirn sog sich an den Erklärungen und Erläuterungen voll wie ein ausgetrockneter Schwamm. Was der Autodidakt Paul Irmiger in sieben Jahren zusammengetragen hatte, verschlang Jean-Louis in sieben Tagen. Jedes Wort, jede Notiz, jedes Maß und jede Formel, die er in den Notizen und Büchern einmal sah, brannte sich in sein unerschütterliches Gedächtnis ein und stand ihm nun als neues Werkzeug zur Verfügung. Was er bis dahin intuitiv richtig erfasst und richtig zusammengesetzt hatte, sah er nun mit klarem Verstand in einem größeren Zusammenhang. Was er bisher aus purer Nachahmung richtig machte, konnte er sich nun mit mathematischen, geometrischen und mechanischen Gesetzen erklären und begründen. Zudem verfügte er nach und nach über einen fachlichen Wortschatz, mit dem er sich im Notfall über die gestellten Probleme verständigen konnte. Eine altertümliche, »Stackfreed« genannte Federbremse konnte Jean-Louis nun ebenso bis in die kleinsten Details aufzeichnen und aus dem Gedächtnis erläutern und berechnen, wie neuere Repetitionen, Schlag- und Weckeinrichtungen, Aufzugsmechanismen und Chronographenschaltungen.
     
    Nach zwei Wochen hatte Jean-Louis so viele Uhrwerke repariert, wie sein Vorgänger normalerweise in vier Monaten erledigte. Der Berg der anstehenden Reparaturen war
zwar nach wie vor enorm, aber im Laden begannen sich die Regale wieder zu füllen, Kunden konnten beliefert und reparierte Objekte an ihre Besitzer zurückgegeben werden. Während die Hugenotten in Ferney weiter fröhlich und nichts fürchtend die mit Markasit bestückte Montre à répétition als Massenprodukt herstellten und vermarkteten, startete das Atelier Falquet einen nie gesehenen Erfolgskurs mit edlen, robusten, funktionierenden Luxusuhren. Voltaire und die Hugenotten produzierten für die Masse, Falquet für den Adel. Allein die Tatsache, dass die zur Reparatur zurückgegebenen Objekte plötzlich funktionstüchtig und zuverlässig aus der Werkstatt Falquet zu den Besitzern gelangten, ließ das Gerücht aufkommen, Maître Falquet habe nun endlich, nach dem Krach mit Irmiger, einen der besten Uhrmacher aus Neuenburg eingestellt, Breguet sollte er heißen, ein blutjunges Uhrmachergenie. Diese Kunde verbreitete sich in Windeseile, und neue Bestellungen für die Rose Blanche trafen beinah täglich ein, übermittelt durch Laufburschen und Kuriere aus Genf, Mulehouse, Paris, Genua und Rom.
    Jean-Louis stellte die Werkstatt um, ordnete die Bestandteile neu, sortierte die alte, unbrauchbare Ware aus, behielt nur das Beste und forderte neue Lieferungen von Uhren und Rädern, Federn und Stiften. Am Montagmorgen des dritten Monats packte Jean-Louis die Kiste mit den von verschiedenen Uhrmachern signierten Teilen und warf sie hinter dem Haus zum übrigen Schrott. Die Uhrwerke, die er aus dem Ramsch zusammenbaute, waren seine eigenen Kreationen. Verschiedene Verbesserungen, die er aufgrund der Lektüre von Paul Irmigers Notizen machen konnten, verhalfen der Mechanik zu mehr Stabilität,
zu erhöhter Zuverlässigkeit, zu längerem Leben, und fortan sollten diese Werke seine Unterschrift tragen.
    Kurz darauf betrat ein Kunde den Laden, der sich als Graf von Boilot vorstellte. Er hatte die beschwerliche Reise aus dem Burgund nach Ferney auf sich genommen, um ein Prachtexemplar der Rose Blanche persönlich zu bestaunen, auszuwählen und zu erwerben. Aus purer Neugierde, aber auch als eine kleine Belohnung für seine beschwerliche Reise wollte Graf von Boilot auch das Uhrwerk erklärt haben, das Maître Falquet unter dem Namen Le Roy aus Paris verkaufte. Als der Graf jedoch die Unterschrift entdeckte, brüskierte er sich und verließ Maître Falquets Atelier unter Protest, verschiedener scheußlicher Beschimpfungen und Prozessdrohungen wegen gemeiner, niederträchtiger Betrügerei.
    »Jean-Louis!«, schrie Maître Falquet vom Laden her in die Werkstatt, »wer ist das?«
    Der Maître zeigte mit seinem alten, schrumpeligen Finger auf die Buchstaben JLS, die mit einem Stichel in die äußere Wand des Federhauses geritzt waren.
    »Das ist meine Unterschrift, Maître«, gestand Jean-Louis, »das Uhrwerk stammt von mir.«
    »Du bist ein Niemand, Sovary, deine Unterschrift gibt es nicht, sie gilt nichts, sie ist nichts wert, im Gegenteil! Hast du eine Ausbildung? Kannst du irgendein

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