Das taube Herz
Lesepults, damit Montallier sie genauer betrachten konnte.
»Erstaunlich, erstaunlich!«, brummte er und drehte die Rose Blanche in seinen schwarzen Lederhandschuhen in alle Richtungen, »das hast du sehr gut hinbekommen. Da!« Montallier knallte einen Beutel auf den Tisch. »Das ist der Rest der offenen Rechnung, du wirst es gebrauchen können. Und jetzt will ich dir etwas zeigen, komm!«
Jean-Louis wollte seinem Kunden die von Falquet unterschriebenen Papiere aushändigen, aber Montallier war bereits zur Tür hinübergestapft und wartete darauf, dass Jean-Louis ihm folgte. Er führte ihn durch einen Flur in den hinteren Teil des Hauses, dort eine Treppe hinunter, an der Küche vorbei durch eine Art Speisekammer und von dort durch eine kleine, schiefe Holztür noch einmal eine Treppe hinunter in den Keller. Jean-Louis folgte dem großen, massigen Mann durch die Türen und die Stufen hinunter in eine unbekannte, ungewisse Welt.
13
Die Talglampe in der linken und einen Bund mit großen Schlüsseln in der rechten Hand, stapfte Montallier voraus. Was früher einmal ein modriger, verschimmelter Weinkeller gewesen sein musste, glich auf den ersten Blick einem Studierzimmer. Im langen Flur, der von der Treppe in die hinteren Räume führte, standen Regale mit Büchern und kleinen Nippsachen; gerahmte Bilder hingen an den unverputzten Wänden. Im ersten Raum befanden sich noch mehr Bücher, ein kleiner Lesetisch mit Brille, Papier, Feder und Tinte in der Mitte, ein Buch lag aufgeschlagen darauf. Nur die gewölbte Steindecke erinnerte daran, dass dieser seltsame Ort sich unter der Erdoberfläche, unter den Straßen und Parkanlagen, unter der Last eines vierstöckigen Hauses in Paris befand. Die Kerzen und Lampen an allen Ecken brannten bereits, als Montallier mit Jean-Louis den großen Raum betrat. Das Kerzenlicht tauchte alles in einen gelblichen, warmen Schimmer. Montallier stellte die Lampe auf den Tisch, wählte einen Schlüssel aus dem Bund und begab sich vor das rechte, schwer beladene, bis zur gekalkten Steindecke reichende Regal. Dort zog er einen in Leder gebundenen, dicken Folianten heraus und führte den Schlüssel in das zum Vorschein gekommene Schloss. Danach schob er das Regal langsam zur Seite und legte eine schwere Eichentür frei. Montallier drehte
zwei weitere Schlüssel in Schlössern und stieß die Tür auf. Auch in diesem verborgenen Raum brannten Kerzen und Lampen. Was sich Jean-Louis’ Blick darbot, war noch erstaunlicher als die seltsame Kellerbibliothek. Die Wände, der Boden und sogar die Decke waren in diesem Raum vollständig mit weißen Kacheln ausgelegt. Weiß lackierte Regale und Schränke reihten sich aneinander, und in der Mitte stand ein Tisch, kein Lesepult, wie in der Bibliothek, sondern eine Werkbank mit vielen unterschiedlichen, Jean-Louis wohlbekannten Werkzeugen: Feilen, Zangen, Pinzetten, Monokel, alles, was ein guter Uhrmacher für seine Arbeit braucht. In den Regalen jedoch standen keine Uhren, sondern alle möglichen und unmöglichen Figuren und Statuen, Nachbildungen von Tieren und Gegenständen, kleine Szenerien mit Pferden und Jägern, Hunden und Hofdamen; kleine und große Wasserspiele konnte Jean-Louis erkennen, Vögel und Blumen auf Dosen, ganze Wagengespanne, mannsgroße Puppen mit Porzellangesichtern, hölzernen Händen und Füßen. Die Glieder einiger dieser Puppen waren durch Schnüre, Drähte und dünne Eisenstangen mit offenen und verdeckten Räderwerken verbunden. Nun öffnete Montallier einen großen Schrank im hinteren Teil des Raumes und legte die Rohre und Pfeifen einer monströsen Orgel frei. Bruchstücke einer oder mehrerer Kirchenorgeln waren hier behelfsmäßig und ohne ästhetisches Bemühen zusammengestellt worden. Montallier bückte sich zur Seite nieder und drehte an einem Aufzug. Das Einschnappen des Gesperrs knatterte wie bei einer großen Standuhr. Kaum hatte Montallier fertig gedreht, begann ein Knirschen und Quietschen von sich ineinander verzahnenden
Holzrädern, gespannten Seilzügen und einschnappenden Sperren. Und schon setzte ein leises, dann immer lauter werdendes Plätschern ein, das sich in das Geräusch eines heftigen Regengusses verwandelte. Jean-Louis schaute sich erschreckt um.
»Das ist meine Regenmaschine!«, schrie Montallier durch den Lärm und schritt mit prüfendem Blick ans andere Ende der Orgel. Das Regengeräusch klang so echt, dass Jean-Louis fürchtete, nass zu werden.
Allmählich ließ der Regen nach, und die Pfeifen
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