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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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begannen eine mehrstimmige Melodie zu spielen. Jean-Louis glaubte, das Thema eines französischen Volksliedes zu erkennen, und im vorderen Teil des Raumes begannen die kleinen und großen Puppen, sich im Takt der Musik zu bewegen. Ein Sämann griff mit der rechten, bis in die Fingerspitzen beweglichen Hand in eine Schüssel, die er unter dem linken Arm trug, und streute Korn aus, eine Magd wusch Wäsche im Bach, ein Harlekin spielte mit einem Ball, und ein Jäger setzte zum Pfeilschuss an. Auch die kleineren Figuren und Objekte auf den Regalen begannen sich zu drehen und zu bewegen; Wasser plätscherte aus Rohren auf Schaufelräder, welche kleine, den Acker bestellende Figuren antrieben, floss weiter über schmale Blechkanäle von einer Etage zur nächsten, um da eine Mühle und dort eine Kutsche anzutreiben, Holz zu sägen und eine Gruppe von Figuren einen Reigen tanzen zu lassen. Auf einem anderen Regal entdeckte Jean-Louis eine Nymphe, die lauthals sang und sich im Takt bewegte, und ein bocksfüßiger Pan blies in seine Flöte, Szenerien, die Jean-Louis erstaunlich bekannt vorkamen. Je länger er sich in diesem Sammelsurium animierter Figuren und
Objekte umschaute, umso klarer erkannte er mehrere seiner eigenen Automaten hier ausgeführt, die er über die letzten zwei Jahre hinweg in seinen Notizheften akribisch entworfen und aufgezeichnet hatte. Wie war das möglich, dass Montallier gebaut hatte, was Jean-Louis sich im fernen Ferney ausgedacht hatte? Aber es waren nicht nur seine Entwürfe. Das tanzende Figurentheater, die beiden auf Ambosse hämmernden Schmiede, das trabende Holzpferd und der Feuer speiende Kopf stammten nicht von ihm, ebenso wenig die Verbindung der bewegten Figuren mit dem Orgelspiel. Jean-Louis hatte Figuren und Gehäuse für Spieldosen entworfen, die in sich die Walze und den klingenden Stiftkamm verbargen. Hier war die überdimensionierte Spieldose umgestülpt worden wie ein Handschuh. Hier befanden sie sich, Montallier und er, im Innern des Gehäuses, im Innern einer riesengroßen Maschine. Das Regelwerk der Mechanik drehte sich um sie herum und trieb die sich bewegende Welt an. Jean-Louis betrachtete alle diese animierten Figuren und Objekte, die Federzüge, Seile und Stangen, Wellen und Räder und erkannte allmählich, dass sie sich hier nicht mehr vor, sondern tatsächlich im Innern einer großen, alle Dimensionen sprengenden Automatenwelt befanden. Dieser ganze Kellerraum war eine begehbare, von innen erkundbare Maschine, in der sie beide, Jean-Louis und der schwer beleibte Montallier, neben all den Holz-, Metall-, Glas-, Email- und Stoffteilen zu bloßen, zusätzlichen, frei schwebenden Elementen geworden waren, denen die Funktion zukam, ebenbürtig zu allen anderen Aufgaben, dem Geschehen Einhalt oder weiteres Fortschreiten zu gebieten.

    Montallier zog einen Riegel, und die Stiftwalze der Orgel stoppte abrupt. Die Musik verstummte, und alle Automaten erstarrten augenblicklich mitten in ihren Bewegungen zu leblosen Wesen.
    Montallier grinste stolz.
    »So sieht die Zukunft des Orgelbaus aus!«, triumphierte er. »Eine Kreation des Orgelmeisters Montallier höchstpersönlich. Der Hof in Versaille weiß noch nichts von seinem Glück. In ein paar Monaten wird sich das Ereignis jedoch in ganz Frankreich herumsprechen. Aber eigentlich will ich dir etwas ganz anderes zeigen.«
    Montallier holte eine Holzkiste unter dem Werktisch hervor und nahm den Deckel ab. Er befreite nun eine Rose Blanche aus dem Hause Falquet von Stroh und Schafwolle und legte sie auf den Tisch, dann eine zweite, eine dritte und sogar eine vierte. Jean-Louis betrachtete die vier Exemplare der Rose Blanche vor sich und wusste nicht, was er davon halten sollte. Waren es echte Exemplare? Hatte der Orgelbauer sie nachgebaut? Montallier griff in die Tasche seines Mantels, holte das Exemplar hervor, das Jean-Louis oben im Studierzimmer eben gerade fertig zusammengebaut hatte, und legte es neben die anderen. Alle fünf Exemplare der Rose Blanche glichen sich aufs Haar. Maître Falquet hatte die Präzision seiner Kunstfertigkeit zum Äußersten getrieben. Auch wenn zwischen dem Entstehen der einen und anderen Jahre liegen mochten, so sahen sie sich doch zum Verwechseln ähnlich. Und sollte Montallier sie kopiert haben, stand er dem Maître in nichts nach.
    »Sie sammeln schöne und interessante Objekte, wie ich sehe«, sagte Jean-Louis vorsichtig. »Was hat Sie dazu
bewogen, noch eine fünfte Rose Blanche zu erwerben? Wir

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