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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Stunden nachdem der alle sechsundsiebzig Jahre erscheinende Komet Halley am Himmel gesichtet worden war, durfte Philibert Graf de la Tour, der weder von Astronomie noch von Kometen eine Ahnung hatte, nach vielen Jahren des Begehrens, Leidens und Wartens, sich endlich stolzer Vater nennen. Zwei nicht enden wollende Tage und noch um einiges längere neun Stunden hinweg hatte er erst das heftige rhythmische Atmen seiner Frau, dann das Stöhnen und Flehen, die Schreie schließlich, in seinem Studierzimmer mit angehört. Wie Messer drangen ihm diese verzweifelten Rufe durch Mark und Bein und ließen ihn das Böseste und Abscheulichste ahnen. Zwei Hebammen sorgten zwar in Sechsstundenschichten für das Wohl seiner Frau, kochten Wasser, hielten Tücher bereit, wechselten die Bettwäsche, leerten den Topf und halb ausgetrunkene Teetassen, aber seine liebste Frau Gemahlin wusste nichts Gescheiteres, als alle paar Minuten vom Bett aufzustehen und stöhnend und röchelnd im Zimmer auf und ab zu gehen, sich beim Fenster auf dem Sims aufzustützen, einen Blick hinauszuwerfen und sich kurz
darauf erleichtert wieder ins aufgewühlte Bett fallen zu lassen. Seit den ersten Wochen der Schwangerschaft hatte seine Gemahlin sich über Schmerzen beklagt. Kaum hatte der Hausarzt die Schwangerschaft bestätigt, setzten auch schon die Wehen ein, und Graf de la Tour befürchtete, seine Frau wolle nach all den Strapazen des Zeugens das Kind nun gar nicht behalten, bis der Hausarzt sie beide darüber aufklärte, dass es sich um ganz normale Übungswehen handle. Höflich wurde der Herr Graf gebeten, seiner Gemahlin zur Beruhigung beide Hände auf den Bauch zu legen. Und tatsächlich, die Wölbung unter dem mehrschichtigen Kleid war hart wie Holz, so hart, wie schwangere Bäuche eben zu sein pflegen, wenn sie Übungswehen durchmachen. Seiner Gemahlin schien diese Erklärung jedoch nicht zu behagen, und sie begann zu marschieren. Seit mehr als fünf Monaten marschierte die Gräfin in ihrem Zimmer, in den Gängen, von der Küche ins Musikzimmer und zurück, von der Bibliothek ins Schlafgemach, Treppe rauf und Treppe runter. Nur in den Garten hinaus traute sie sich nicht mehr, und seit die Übungswehen in Senkwehen übergegangen waren, verließ sie ihr Gemach überhaupt nicht mehr. Das war für Graf de la Tour der Augenblick, die Hebammen rufen zu lassen und sich ins Studierzimmer zurückzuziehen. Sein eigenes Schlafzimmer lag direkt neben dem seiner Frau, und die Tür war so alt und verzogen und schloss so schlecht, dass ihr Gestöhne ihn kein Auge hätte schließen lassen. Das Studierzimmer lag auch nicht viel besser. Es befand sich direkt unter dem Schlafzimmer seiner Frau, so dass er jeden Schritt auf den Holzdielen und durch deren Ritzen jedes Röcheln mithören musste. Die Fenster hatte er mit Tüchern verhängt,
die Tür abgeriegelt, sich mit Decken und Mänteln versorgt, aber schlafen konnte er trotzdem nicht. Die Schritte, das Stöhnen und heftige Atmen, die verzweifelten Rufe nach Wasser, Tüchern, Topf oder Stütze, die trügerische Ruhe dazwischen, all das kratzte an seinem Schlaf und hielt ihn über all die Stunden hinweg bei vollem, schmerzempfindlichen Bewusstsein. Er blätterte in Büchern, las unbeantwortete Briefe zum wiederholten Mal, versuchte Korrespondenzen zu erledigen, ohne Erfolg. Er rechnete verschiedene Einkünfte gegen all die Ausgaben der letzten Monate auf, kam jedoch nie auf dasselbe Resultat. Die Schritte und Geräusche über ihm rieben seine Nerven auf. Das Einzige, was ihn ein bisschen beruhigte, war das Schachspiel, das er neben seinem Arbeitspult auf einem separaten Tischchen stehen hatte. Er spielte oft Partien gegen sich selbst. Gegen wen sollte er sonst spielen hier auf Schloss La Tour? Seine Gemahlin war nicht einmal imstande, einen Bauern von einem Läufer zu unterscheiden, geschweige denn, sich für eine Eröffnungsstrategie zu interessieren. Und im Haus und rund um das Schloss lebten außer ihm nur Köche, Ammen, Gärtner, Bauern und Landstreicher. So zurückgezogen und einsam war sein Grafenleben, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als gegen sich selbst Schach zu spielen, um strategisch, geistig und kulturell auf der Höhe der Zeit zu bleiben. So spielte er nun gegen den Abgrund der Verzweiflungs- und Schmerzensschreie seiner Gemahlin an. Die geistige Übung erlaubte es ihm, sich über den Schmerz und den drohenden Tod von Frau und Kind zu stellen. Die kühle Erwägung eines Zuges wurde zur beruhigenden

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