Das taube Herz
kommen, weder der sprechende Kopf des Jesuiten Athanasius Kirchner noch Vaucansons kackende Ente und schon gar nicht sein langweiliger Flötenspieler.«
»Aber eben haben Sie mir doch die Miniaturausgabe präsentiert. Ihre Zimbal spielende Marie Antoinette ist doch nichts weiter als eine Kopie, wenn auch eine lebensgroße und meisterhafte, wie ich annehme, aber es bleibt doch bei der Kopie.«
»Da hast du wohl recht, mein kleiner Sovary. Aber das ist ja auch noch nicht alles. Marie Antoinette soll nicht nur Zimbal spielen können. Schließlich ist sie eine Königin«, er machte eine lange Kunstpause, »und Königinnen sollten das Königsspiel beherrschen!«
Montallier verstummte und starrte Sovary an.
Jean-Louis zögerte, aber er hatte durchaus verstanden, was Montallier eben gesagt hatte.
»Sie meinen tatsächlich Schach? Diese künstliche Marie Antoinette soll Schach spielen können? Wie soll das gehen?«
Montallier ließ seinen Blick nachdenklich sinken, spielte mit seinen Händen und ließ die Zunge seltsam um seine Lippen gleiten. Dann stand er auf.
»Du wirst so lange hier unten ausharren, mein lieber Sovary, bis du mit dieser Arbeit fertig bist! Dennoch lasse ich dir nicht mehr als acht Monate Zeit. Solltest du bis dahin zu nichts gekommen sein, wird dein Name auf Lebzeiten unzertrennbar mit den Machenschaften Falquets, mit dieser unsäglichen Rose Blanche, mit dem Inbild von Betrug und Fälscherei verbunden sein. Ganz abgesehen vom Prozess, den man dir machen wird, und dem Schafott, auf dem du landen sollst, so wahr ich Montallier heiße!«
Plötzlich wandte sich Montallier um und stellte sich neben die Orgel im hinteren Teil des Raumes. Dann legte er beide Hände an die Seitenwand des Instruments und
stieß die ganze Konstruktion unter lautem Quietschen und Rumpeln um einen Meter nach rechts.
Hinter der Orgel befand sich eine Tür, für die Montallier ebenfalls Schlüssel mit sich trug. Als die schwere Eichentür aufsprang, tat sich dahinter ein weiterer vollständig weiß gekachelter Raum auf. Da sich darin weder Regale noch Schränke, noch irgendwelche Gegenstände befanden, glich er einem Operationssaal. Montallier leuchtete mit seiner Talglampe in den Raum, so dass Jean-Louis in einer Ecke etwas Stroh am Boden erkennen konnte. Die glänzenden Kacheln spiegelten das Licht wider. Ein übler Geruch drang aus dem Raum, als hätte jemand darin altes Gemüse verfaulen lassen, als lägen irgendwo zwei, drei verhungerte, langsam verwesende Ratten. Montallier brachte eine zusätzliche Lampe und leuchtete den Raum besser aus.
»Wo steckt das Biest! Zeig dich!«, rief er, aber in dem Kerker rührte sich nichts. Montallier musste durch den Raum gehen und das feuchte Stroh aufwühlen, um darunter eine elende, halb tote, halb lebende Gestalt aufzustöbern, die verängstigt in eine Ecke des Kerkers flüchtete und das Gesicht unter dem langen, verfilzten Haar, den erhobenen Armen und in der Finsternis des Kerkers verbarg. Es handelte sich offensichtlich um einen Menschen und nicht wie in den übrigen Räumen um einen Automaten, das ging schon aus dem Geruch hervor, der unerträglich in der Nase biss. Nur von Montallier allein hätte Jean-Louis erfahren können, wie lange diese Kreatur bereits hier unten hauste, ohne Licht, ohne Wasser, gefüttert alle paar Tage wahrscheinlich wie ein Raubtier, verstört von der ewigen Dunkelheit, der Einsamkeit, dem eigenen
Dreck und der Kälte der Keramikkacheln rund um sie herum.
»Das ist Ana de la Tour«, sagte Montallier feierlich und machte eine Geste, als präsentierte er ein Prachtstück in der Vitrine seines Museums, »die beste Schachmeisterin ganz Frankreichs, ganz Europas und wahrscheinlich sogar der ganzen Welt und für alle Zeiten!«
Montallier näherte sich der verschüchterten, vor Panik zitternden Gestalt, streckte die Lampe in die Höhe und riss das verfilzte Haar hoch. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Jean-Louis die feinen Gesichtszüge einer jungen Frau erkennen, die ihren Blick vor Scham und Angst schützend zur Seite riss, bevor sie sich mit aller Kraft aus den Klauen Montalliers befreite und in die andere Ecke des Kerkers rannte, um sich dort unter das Stroh zu graben wie ein gejagtes, verletztes Tier.
ZWEITER TEIL
1
Sechsundzwanzig Jahre bevor der Pariser Hoforgelbauer Montallier dem jungen Uhrmacher Jean-Louis Sovary das Schachgenie Ana de la Tour präsentierte, am Vormittag eines prächtigen Weihnachtstages des Jahres 1758, nur drei
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