Das taube Herz
erschöpft, dass sie die Augen nicht mehr aufbrachte und die kleine Belohnung gar nicht wahrnahm.
»Schauen Sie nur, schauen Sie nur, wie hübsch es ist!«, rief die zweite Hebamme und streckte ihm das fest eingewickelte Kind entgegen, »wie soll es denn heißen?«
»Später, später!«, rief der Graf verzweifelt und stürzte zur Tür hinaus. Denn einen Mädchennamen, das wurde ihm erst jetzt bewusst, hatte er sich keinen ausgesucht. Überhaupt hatte er sich keine Gedanken über Namen gemacht, denn sein Sohn, das stand außer Frage, sollte Philibert heißen, wie er hieß, so wie sein Vater, sein Großvater und viele andere Vorväter geheißen hatten. Aber nun hatte
sich das erübrigt, und einen Philibert junior würde es nie geben, damit musste Philibert senior erst einmal fertig werden, bevor er sich Gedanken über Mädchennamen machen konnte.
Zwei Tage, so lange wie die Gräfin ihrer Erschöpfung wegen im Bett verbrachte und kaum ein Auge auftat, blieb das Kind ohne Namen. Der frischgebackene Vater hatte sein Pferd bestiegen und war in die nächstgelegene Stadt, nach Nizza, geritten, von wo er erst mehrere Tage später und ohne jeglichen Kommentar wieder zurückkehrte. Die Hebammen nannten das Kind einfach das Mädchen, bis die Gräfin sich so weit erholt hatte, dass sie sich bereit erklären konnte, von ihrer Tochter einen ersten Augenschein zu nehmen. Vorsichtig schoben die Hebammen die große, geflochtene Kinderkrippe in das Schlafzimmer. Das winzige Mädchen schrie wie am Spieß.
»Ach, beruhigt das Kind doch ein bisschen und bringt es mir später!«
»Das Mädchen schreit schon seit zwei Tagen so, Madame, es würde sich bestimmt etwas beruhigen, wenn Sie es ein wenig an ihre mütterliche Brust nähmen«, versuchten es die Hebammen vorsichtig.
»Kommt nicht infrage! Bringt den Schreihals weg und kommt wieder, wenn er sich beruhigt hat. Wie heißt es denn überhaupt?«
»Wir wissen es nicht, Madame. Ihr Herr Gemahl hat gesagt, er würde sich später dazu äußern.«
»Ach, dann soll sie Ana heißen, nach ihrer Großmutter, das wird ihr Glück bringen. Ist die Amme schon eingetroffen?«
»Ja, Madame.«
Ana wurde also zur Amme gebracht, in die Arme einer großen, weichen, mütterlichen Frau, die, solange sie das Kind der Familie de la Tour stillen sollte, im ersten Stock in einer kleinen, fensterlosen Kammer untergebracht war. Aber auch da, wie schon die zwei ersten Tage, schrie Ana lauthals und herzzerreißend, ohne Unterbrechung, sträubte sich gegen jeden zärtlichen Versuch, sie zu beruhigen, sie in den Armen zu wiegen, ihr Wärme und Zuneigung zu spenden und verweigerte sogar die pralle Brust. Nur ganz selten schnappte sie nach der vorgehaltenen Brustwarze und saugte so heftig, dass die Amme das Kind schmerzerfüllt wieder von sich wegriss. Die mehr als zehnjährige Erfahrung der Amme mit über einem Dutzend Kindern reichte nicht aus, um Ana zu beruhigen und sie das Trinken zu lehren. Am besten erholte sich Ana, wenn die Amme sie in der Krippe liegen ließ, sie möglichst nicht anfasste, ja sie geradezu ignorierte. Das jedoch brachte die kinderliebende Amme nicht übers Herz und griff wieder und wieder nach dem schreienden Bündel, in der nicht versiegenden Hoffnung, das Kind an ihrer nährenden Brust endlich beruhigen und stillen zu können. Ana aber schrie oder saugte so heftig, dass die Amme es nur ein paar Sekunden aushielt. Die Schreie des Kindes waren im ganzen Haus zu hören und wollten auch nachts nicht versiegen. Nach drei schlaflosen Nächten und Tagen war die Amme so erschöpft, innerlich über ihren Misserfolg so niedergeschlagen und jeglicher Hoffnung beraubt, dass sie das Kind noch vor Sonnenaufgang in die Krippe legte, die Kammer verließ, das Schloss und das Gut. Den Knecht, der im Stall bereits nach den drei Kühen sah, hatte sie beauftragt, den Herrschaften mitzuteilen, dass es ihr leidtue.
Ana habe ihre Brust nicht gewollt. Sie würden bestimmt eine andere finden.
Und so war es auch. Noch am Nachmittag bezog eine zweite, etwas kleinere Amme die Kammer und sorgte sich um die schreiende Ana, ohne großen Erfolg. Auch sie versuchte alle möglichen Tricks, trug das Kind stundenlang durch die Kammer, machte Schritte im Kreis, wickelte es neu, wickelte es enger, wickelte es lockerer, entfernte schließlich alle Binden und ließ das Mädchen nackt auf dem Bett liegen, schob es unter ihren Rock auf ihren warmen Bauch, legte es an die nach Muttermilch riechende Brust, alles ohne Erfolg.
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