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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Arznei gegen all die unerträglichen Szenarien, die sich ihm über mehr als zwei
Tage hinweg akustisch darboten. Je stärker die Wehen und damit die verbalen Ergüsse seiner Frau sich über ihm ausschütteten, desto besser gelang es ihm, sich in zwei gegnerische Parteien zu spalten und die einzelnen Züge ohne jegliches Einberechnen der gegnerischen Partei zu überdenken. Als nach mehr als achtundvierzig Stunden die Eröffnungswehen endlich in Presswehen übergingen, hatte er die Fronten aufgebaut und klare Vorstellungen davon, wie für beide Seiten ein Matt zu erreichen sei. Die Kräfte waren ausgeglichen, die Stellungen relativ offen, und selbst in normalem Zustand wäre es nicht möglich gewesen, die eine oder andere Partei als Sieger vorauszusagen. Die Schlacht hingegen stand offensichtlich bevor, und die Spannung stieg mit dem Lärmpegel. Im Takt der nun in kurzen Abständen aufeinanderfolgenden Wehen spielte Graf de la Tour einen Zug nach dem andern, wechselte in scharfen Abgrenzungen zwischen den beiden Bewusstseinszuständen von Schwarz und Weiß hin und her, bis der ultimative Geburtsschrei seiner Frau so heftig an sein Ohr drang, dass er mit dem weißen Pferd endlich einen Bauern schlug, dieses jedoch durch den schwarzen Turm verlor, den er wiederum schlug, und im Rausch der letzten Geburtsschreie riss er die Gestade des Spiels in einer Kaskade von logischen Zügen ein bis zur letzten, unausweichlichen, ausweglosen Stellung, die das Matt herbeiführte. Es war ruhig geworden im Haus, und ihm schien, als erwachte er aus einem langen, fürchterlichen Albtraum. Leise hörte er sein Kind weinen. Wie kleine helle Weihnachtsglocken drangen diese Seufzer durch das Gebälk in sein Studierzimmer herab. Und kurz darauf hörte er auch seine Frau schluchzen. »Sie leben!«, rief er aus, riss die Tücher von
den Fenstern, ließ das Morgenlicht hereinfluten, schaufelte sein Arbeitspult von der Korrespondenz frei und begann, die Schachfiguren aus der im Wahn erzwungenen Stellung zu befreien und sie in ihrer Holzschatulle zu versorgen. Weiß hatte gewonnen.

2
    Ein Mädchen!«, rief die Hebamme aus und trug Tücher und Geschirr an Graf de la Tour vorbei in die Küche hinaus, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Wie vom Blitz getroffen blieb der Graf im Flur stehen, erbleichte, verlor an Blutdruck, dann das Gleichgewicht und suchte mit der Linken verzweifelt nach Halt, während er die rechte Hand wie zum Schutz an seine Stirn schlug. Dann fiel er mit der ganzen Last seiner hageren Gestalt auf den Sessel nieder, ein hochmoderner Stuhl nach Louis XV, den er eben erst erworben und auf den zu setzen sich bis zu diesem vom Schicksal geschlagenen Augenblick noch niemand getraut hatte. Die erste Hürde war geschafft, und schon tat sich eine zweite, eine offensichtlich unbezwingbare vor ihm auf. Nie im Leben würde seine Frau diese ganze unselige Prozedur des Zeugens und Gebärens noch einmal über sich ergehen lassen, nie und nimmer würde es ihm gelingen, sie dazu zu bringen, ihr Leben noch einmal aufs Spiel zu setzen. Er würde wohl ohne Stammhalter sterben müssen und damit nicht nur sein Leben, sondern auch dasjenige einer großen Familie, die Erbfolge der Dynastie de la Tour zu Ende bringen. Mit ihm, dem letzten Grafen de la Tour von Schloss La Tour, sollte nun also eine jahrhundertealte Familiengeschichte, all die gepflegten Traditionen, das über viele Generationen hinweg mühselig erarbeitete,
zusammengetragene und vermählte Hab und Gut, all die erlangte Ehre und Würde, der ganze Ruhm, all das würde mit ihm und seinem Tod zur Neige gehen, Geschichte werden und übergehen in andere Hände, in andere Dynastien und Familien. Die Mitgift, die er einst für seine Tochter würde aufbringen müssen, sollte seinen jetzt schon sehr angeschlagenen Finanzen endgültig den Todesstoß versetzen. Dem Verkauf von Anwesen und Papieren, Gemälden und Schmuck würde dann nichts mehr im Weg stehen. Das Wort »Mädchen« klang in Graf de la Tours Ohren wie ein Urteilsspruch zur Hinrichtung, zur Auslöschung, zur Vernichtung eines ganzen Adelsgeschlechts, welches in seiner, Philibert Graf de la Tours Person die noch einzige und letzte lebende Manifestierung aufzubringen vermochte. Aber auch diese war nun dem Tod geweiht.
    Mit diesen und anderen, weit verwerflicheren Gedanken betrat Graf de la Tour das Schlafgemach seiner Frau, um ihr zu der geleisteten Arbeit zu gratulieren und ihr einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Aber seine Frau war so

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