Das taube Herz
Außer ein paar winzigen Schlucken, welche die Amme höllisch schmerzten, dem Kind jedoch gerade das Überleben sicherten, nahm Ana nichts zu sich, verweigerte jeglichen Kontakt und schrie nach Leibeskräften. Nach kaum einer Woche schlug die übernächtigte Amme die Kammertür hinter sich zu, betrat unangemeldet das Zimmer der nach wie vor bettlägerigen Gräfin und verlangte ihren Lohn für eine Woche und das Zugeld für die Her- und Rückreise.
Graf de la Tour, der sich seit seiner Rückkehr aus Nizza im Studierzimmer eingeschlossen hatte, war gezwungen, noch einmal in die Stadt zu reiten und eine dritte Amme auf Schloss La Tour zu bringen. Diesmal wollte er sich seiner Sache sicher sein und befragte mehrere erfahrene adlige Bekanntschaften. Man legte ihm Giovanna nahe, eine stämmige Bauersfrau aus dem italienischen Genua, eine Frau, die mit jedem Kind fertig werde.
Giovanna lebte in einer einsamen, verfallenen Hütte außerhalb von Nizza und hatte drei Säuglinge und zwei kleine Kinder in Obhut, die ihr einen bescheidenen
Lebensunterhalt sicherten. Sie hatte ein eigenes Kind gehabt, einen Sohn, der jedoch in den ersten Monaten verstorben war, weil Giovanna sich damals um den Nachwuchs einer Fürstin kümmern musste und drei Tage lang das Landgut der Adelsfamilie nicht verlassen durfte. Seither lebte sie allein und pflegte Kinder anderer Leute bei sich zu Hause.
Graf de la Tour blieb nichts anderes, als die Amme mitsamt den fünf Kindern in eine Kutsche zu laden und sie in seinem Schloss in der Kammer unterzubringen, in welcher die kleine Ana ihr Unwesen trieb.
Noch nie hatte Giovanna in einem so sauberen Bett geschlafen, noch nie hatte sie ihre Kinder in so weiße Laken wickeln können, und noch nie hatte ihr jemand Wasser gekocht, so dass sie sich selbst und ihre Schützlinge waschen konnte.
Noch am selben Abend verstummte Ana auf so wunderbare Weise, dass sich von der Zofe zum Koch, vom Koch zum Knecht, vom Knecht zum Gärtner die Kunde verbreitete, die Amme habe das Kind im Zorn zwischen ihren gigantischen, schweren Brüsten erstickt.
Am frühen Morgen, noch bevor die Herrschaften aus den Gemächern in den Speisesaal kamen, präsentierte Giovanna das still schlafende Neugeborene in einem Korb, den sie am Arm trug. Zufrieden lag Ana dort neben zwei anderen Kleinkindern, das vierte trug Giovanna auf dem linken Arm. Sie stellte den Korb auf den Küchentisch und bestellte lauthals, als befände sie sich in einem Krämerladen, die Ingredienzien für ihre Arbeit.
»Mehl, Wasser, Zucker, Milch, altes Brot, einen Krug Wein!«
Die Zofe konnte es nicht lassen und drückte der kleinen Ana kurz die Nase zu, um auch ganz sicher zu sein, dass sie noch lebte. Tatsächlich verzog Ana, in ihrem tiefen Schlaf gestört, das Gesicht und öffnete den Mund. Beruhigt holte die Zofe alles, was die Amme bestellt hatte. Als sie sich danach erkundigte, wie die Amme es denn geschafft habe, Ana zu beruhigen, machte Giovanna nur eine verächtliche Kopfbewegung. »Dieses Kind braucht keine Brust, es will sie nicht«, sagte sie gelassen. »Etwas gesüßter Wein und Ziegenmilchbrei, das hilft immer.«
So wurde Ana die ersten Monate hauptsächlich mit Honigwein, Mehlbrei und altem getränkten Brot ernährt. Das regelmäßige Erbrechen erklärte Giovanna zur heilenden Reinigung, die Ana zu einem gesunden, kräftigen Mädchen werden lasse. Später hängte Giovanna ein Kuhhorn über die Wiege, aus der Ana selbst trinken konnte, so wie das in bäuerlichen Familien im Norden praktiziert wurde, wenn die Mütter auf dem Feld arbeiten mussten. Giovanna hatte bemerkt, dass Ana auf jeglichen direkten Körperkontakt mit Schreien und wildem Gestrampel reagierte. Mit dem Kuhhorn konnte Ana endlich in aller Ruhe richtig trinken, ohne nach allen Richtungen zu schlagen, und nun brauchte sie auch weniger Wein, um sich zu beruhigen.
Es dauerte sieben Monate, bis Graf de la Tour feststellte, dass Giovanna seine Tochter gar nicht stillte, sondern sie mittels eines Kuhhorns mit verdünnter Kuhmilch und süßem Wein zur Beruhigung versorgte.
»Wozu brauchen wir eine Amme, wenn Ana bereits entwöhnt ist?«, sagte er zu seiner Frau in der Form einer
Frage, obwohl es sich um eine Feststellung, gar um einen versteckten Entschluss handelte. Kurzum setzte er Giovanna mit ihren fünf Kindern in eine Kutsche und ließ sie in ihre verfallene Hütte zurückfahren.
3
Bald hatte die Zahl der Kindermädchen, die Graf de la Tour für Ana eingestellt und wieder
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