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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Aufregung, ohne jene zunehmende Verzweiflung, die jedes Kindermädchen und jede Ziehmutter früher oder später erfasst und sich in Drohungen, Rügen und Beschimpfungen umgesetzt hatte. Cagliostro schien die Lage, sich selbst und Ana im Griff zu haben, denn nach und nach wurde es ruhiger. Am Abend des vierten Tages trat Cagliostro endlich aus dem Zimmer.

    »Ein klarer Fall«, verkündete er und krempelte sich die Hemdsärmel herunter, schloss die Manschettenknöpfe und brachte seine Weste in Ordnung. Der Graf und seine Frau warteten ungeduldig darauf, das Zimmer betreten und ihre genesene Tochter in Empfang nehmen zu dürfen. Cagliostro hielt sie jedoch zurück.
    »Nichts überstürzen, sie braucht jetzt Ruhe.«
    »Was hat sie, wird sie wieder gesund? Lassen Sie mich zu ihr!«, rief Graf de la Tour empört und drängte sich an ihm vorbei in die Kammer. In dem fensterlosen Raum war es so dunkel, dass er erst gar nichts sah. Dann erkannte der Graf nach und nach die Umrisse des Bettes an der hinteren Wand. Darauf lag Ana, ausgestreckt und ruhig, vollständig eingewickelt in weiße, zu Bändern zerschnittene Laken. Wie tot lag sie da und rührte sich nicht. Außer den zwei kleinen Öffnungen für Mund und Augen war von ihrem Körper nichts zu sehen. Ihr kleiner Körper war vollständig eingewickelt wie in einen Kokon. Sie sah aus wie eine Raupe, die sich in ihr selbstgesponnenes Haus zurückgezogen hat und sich darin in andächtiger Retraite in einen Schmetterling verwandelt. Sie hatte die Augen geschlossen, und plötzlich fürchtete der Graf, sie sei tot.
    »Ana!«, rief die Gräfin und wollte ihre Wange streicheln. Aber ihre Finger glitten nur über eng gebundene Bänder.
    »Es handelt sich hier um eine aus der Zeit der Pharaonen überlieferte Technik des Reinigungsschlafs. Die Mumifizierung der Könige wird hier in einer Art künstlichem Tod rituell durchexerziert. Geben Sie dem Kind von dieser Tinktur!« Cagliostro streckte Graf de la Tour
ein mit mehreren fremden Symbolen beschriftetes Fläschchen entgegen. »Morgens und abends je zehn Tropfen, dazu je einen halben Liter gezuckertes Wasser und etwas in Milch getunktes Brot. In ein bis zwei Wochen wird Ihre Tochter erwachen, dann können Sie die Bandagen abnehmen, und Ana wird kerngesund sein.«
    Cagliostro stellte vierhundert Louis in Rechnung, kassierte und fuhr ab.
     
    Der Graf und die Gräfin ließen durch die Magd vollziehen, was Cagliostro ihnen empfohlen hatte. Seit Jahren hatten sie keine so ruhigen, so angenehmen und friedlichen zwei Wochen erlebt. Die Gräfin schlief jeden Tag bis in den frühen Nachmittag hinein, die Magd kümmerte sich um die in Laken gewickelte, friedlich daliegende und meist schlafende Ana, und Graf de la Tour saß morgens um sieben im Studierzimmer und konnte sich nach all den Jahren der Schreie, der Beschimpfungen und Verleumdungen, nach all den Unannehmlichkeiten mit den Hausangestellten, dem Gezanke mit seiner Frau, nach all den unendlichen Stunden des Leidens seiner Tochter endlich wieder konzentrieren. Als Erstes spielte er jeden Morgen eine Partie Schach gegen sich selbst, ließ einmal Weiss, dann wieder Schwarz gewinnen, mogelte auf der einen oder auf der anderen Seite, machte absichtlich Fehler und genoss sein geheimes Wissen über den Ausgang des Spiels, das er durch die Dreifachrolle des Spielers, Gegenspielers und übergeordneten geistigen, taktischen Regulators vollständig beherrschte. Danach widmete er sich den Korrespondenzen und seinen Finanzen, die nicht besser werden wollten. Aber was waren finanzielle Probleme angesichts
der Tyrannei eines ungehaltenen Kindes! Und damit war nun endlich Schluss, sagte sich Philibert Graf de la Tour zwei Wochen lang, Tag für Tag, Stunde für Stunde mit berauschender Erleichterung.

5
    Am Morgen des fünfzehnten Tages seit Cagliostros Abreise war in dem von ihm verkauften Fläschchen kein einziger Tropfen mehr übrig. Ana bekam etwas gesüßtes Wasser und in Milch getunkte Brotbrocken wie jeden Morgen. Aber eine Stunde später riss sie plötzlich Mund und Augen auf und begann fürchterlich zu heulen und zu wimmern, zu klagen und zu rufen. Dazu wand sie sich nach allen Seiten, krümmte und streckte sich in einem fort, rollte auf dem Bett hin und her und drohte herunterzufallen.
    »So macht doch was!«, rief die Gräfin erschreckt, als sie vom Lärm geweckt und noch im Nachthemd in die Kammer stürzte.
    Hastig begann die Magd, die ungehaltene Ana aus den Bandagen zu wickeln. Der

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