Das taube Herz
hysterischen Wutausbrüche der Hausherrin in Anbetracht
des desolaten Zustands ihrer Tochter und der Unfähigkeit ihrer Angestellten. Ana, das musste auch Graf de la Tour zugeben, war nicht wie andere Mädchen von fünf Jahren. Sie konnte erst seit Kurzem richtig reden, machte immer noch Fehler, sprach oft Wörter und ganze Sätze nach, die jemand zu ihr sagte, ohne deren Bedeutung wirklich zu verstehen, lallte oft ohne Ende sich repetierende Melodien vor sich hin und konnte, wenn sie gerade einmal keinen Wutausbruch hatte, zwei oder drei Stunden damit verbringen, ein paar Hölzer, Murmeln oder Kieselsteine hintereinander in eine Reihe zu legen, Socken aufeinanderzuschichten, auf einem Stück Schnur am Boden hin und her zu gehen, in Büchern zu blättern. Von Büchern und allerlei bedrucktem Papier schien Ana besonders angetan, und manch einem der Kindermädchen gelang es, Ana mit ein paar Buchseiten zu beruhigen oder mit dem Malen von Buchstaben.
»Was für Dummheiten!«, schrie die Gräfin in solchen Momenten und riss den beiden das Papier aus den Händen. »Ana kann noch nicht einmal richtig sprechen, was soll sie dann mit der Schrift! Bring dem armen Kind erst mal das Sprechen bei! Und überhaupt, kannst ja selbst nicht einmal lesen, also lass diese Dummheiten!«
Der Tuchhändler erzählte von einem Arzt, einem Heilkünstler, einem wahren Genie der Medizin, dem er vor ein paar Tagen in Marseille begegnet war.
»Ein großherziger Mensch, ein wahrhaftiger, jemand, der Krankheiten in Menschen lesen kann, wie andere Weisheiten in Büchern lesen, ein Magier und doch ein richtiger Mediziner«, schwärmte der Tuchhändler. »Alessandro von Cagliostro ist sein Name, und er ist auf Reisen.
In zwei Tagen soll er in Nizza sein. Der wird Ana helfen können.«
Also machte Graf de la Tour sich auf, um mit seiner Tochter nach Nizza zu fahren. Da er kein Kindermädchen mehr hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als die kleine Ana in der Kutsche festzubinden, damit sie während der Fahrt nicht wild um sich schlug und sich womöglich noch selbst verletzte. Die kleinste Veränderung ihrer täglichen Rituale des Waschens, Anziehens, Essens und Spielens in der Kammer versetzten Ana in einen Zustand äußerster Verzweiflung und Wildheit. Eine Kutsche zu besteigen war für sie ein Ding der Unmöglichkeit. Nie in seinem Leben hatte Graf de la Tour sich vorgestellt, seine kleine Tochter gefesselt und geknebelt wie einen scheußlichen Verbrecher in eine Kutsche zu sperren und so mit ihr nach Nizza zu fahren. Aber ihm blieb nichts anderes übrig. Zur Sicherheit hatte er an den kleinen Fenstern der Kutsche dicke, schwarze Vorhänge anbringen lassen, um in den Dörfern, die sie zu durchqueren hatten, Ana und vor allem sich selbst vor spöttischen Blicken zu schützen. Die ganze beschwerliche Reise über war aus dem Innern der Kutsche kein Laut zu hören, denn Graf de la Tour hatte Ana auch den Mund geknebelt. Der Kutscher sagte kein Wort, und der Graf dankte es ihm mit stummer Scham.
In Nizza drängten sich so viele Menschen auf der Place Centrale, dass der Kutscher sein Gespann zu keinem Schritt mehr veranlassen konnte. Das Pferd stand bockstill und starrte zu Boden, gerade so, als wäre es aus Wachs gegossen. Rufe und Schreie, Flüche und Gotteslästerungen mischten sich in das anhaltende Stimmengewirr, welches sich um ein einziges Thema drehte. Hoch über den Köpfen,
vom Bock seiner Kutsche aus, auf den er geklettert war, konnte Graf de la Tour das bunt bemalte Gefährt sehen, welches in der Mitte des Platzes thronte und all die Menschen anzog wie der Aufmarsch des Königs. Der Graf zögerte. Mit dem Wagen war es unmöglich, durch diese Menschenmenge zu fahren. Aber die Tür der Kutsche zu öffnen, Ana herauszuführen und mit ihr sich einen Weg durch diese vielen Schaulustigen zu bahnen, das wagte er auch nicht. Er befahl dem Kutscher, auf die Tiere und auf seine Tochter achtzugeben. Dann schlug er sich seinen langen Lodenmantel um die Schultern und drängte durch die Menge, versetzte ein paar Ellbogenhiebe, bekam welche zugesteckt und gelangte endlich zur Kutsche des Arztes, ein schwarzes, in geschwungenen Formen gebautes Gefährt, das über und über mit bunten Symbolen, mit Tieren, Kämpfern und Kriegern und seltsamen, fremdländischen Zeichen bemalt war. Von Weitem glich Cagliostros Kutsche eher einer bunten Kugel auf Rädern als einem Gefährt. Je näher Graf de la Tour kam, umso klarer hörte er eine durchdringende, laute
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