Das taube Herz
ihnen auf, breitete messianisch die Arme aus und erklärte, dass es sich um einen Notfall handle.
Als Cagliostro die verdunkelte Kutsche des Grafen de la Tour betrat, hatte Ana die Augen geschlossen und zitterte am ganzen Leib. Die Fesseln hatten sich durch das heftige Schütteln während der Fahrt etwas gelockert, saßen aber noch immer so fest, dass Ana sich nicht daraus befreien konnte. Cagliostro versuchte, das Tuch von ihrem Mund zu lösen, aber Anas Kiefer hatte sich so krampfhaft darin verbissen, dass er es nicht schaffte. Dann löste er die Stricke an ihren Füßen. Kaum hatte er sie gelockert, zappelte Ana wie wild, riss den Kopf hin und her, versuchte zu schreien, aber der Kiefer saß fest ins Tuch verbissen und wollte sich nicht öffnen. Statt der Schreie waren nur erstickte Laute zu hören, ein Ringen und Würgen. Cagliostro fasste sie am Arm und versuchte, sie zu beschwichtigen, aber gerade das Gegenteil trat ein. Die Berührung wirkte wie ein Blitzschlag, und Cagliostro musste sich selbst schützend zurückziehen. So viel Kraft hatte das kleine Mädchen, dass es einen gestandenen Mann umhauen
konnte. Er versuchte, die Fußfesseln wieder anzulegen, aber auch das vergeblich.
»Seit wann ist sie so?«, fragte Cagliostro, nachdem er die Kutschentür hinter sich zugeworfen hatte.
»Das ist schwer zu sagen«, antwortete Graf de la Tour nachdenklich, »sie war schon immer schwierig, aber inzwischen treibt sie andere Menschen in den Tod!«
»Kann ich sie bei Ihnen zu Hause untersuchen?«
»Wann immer Sie mögen, Meister, am besten fahren Sie gleich mit uns mit.«
Cagliostro zückte ein zweites Formular. Oben rechts stand die Zahl 400 in einem Kästchen.
»400 Louis für den Hausbesuch.«
»Einverstanden«, knirschte Graf de la Tour, die Genesung seiner Tochter kannte keinen Preis.
4
Der Wunderheiler und Prediger alter, vergessener Weisheiten, Alessandro von Cagliostro wartete mit der bunten, von verheißungsvollen Symbolen überdeckten Kutsche und mit seinem gesamten Wissen auf. Mehrere Kisten mit Salben, Pudern, Säften, Kräutern und Seifen trug er in die Kammer, wo seine Patientin die letzten Jahre zusammen mit den unzähligen Betreuerinnen verbracht hatte. Ana ließ er gefesselt in der Kutsche sitzen, bis sein Instrumentarium eingerichtet war. Danach führte er das Kind unter Beihilfe des Knechts ins Haus hinüber, setzte es auf einen Stuhl und band es fest, so wie es der Graf in der Kutsche getan hatte. Er begann zu pudern und zu salben, mixte ein Getränk aus allerlei Kräutersäften, legte Hand auf, sprach Psalmen und unverständliche Beschwörungsformeln, verordnete kalte Fußbäder, Inhalationen und Waschungen. Ana blieb sich selbst treu und verweigerte jedes Angebot, jede Aufforderung, wiegte den Kopf nur umso heftiger, lallte wie in Trance und zerrte an den Schnüren, die sie festhielten. Nachdem Cagliostro ein erstes Repertoire an Techniken, Heilmitteln und Beschwörungen durchgespielt hatte, musste er sich niedergeschlagen dem fehlenden Resultat seiner Handlungen stellen. Mit leicht überheblich hochgezogenen Augenbrauen verschwand er ohne weitere Erklärung in seine bunte Kutsche, um einen
Tag später hell begeistert und voller Tatendrang daraus zurückzukehren und sich mit Ana wieder in die Kammer einzuschließen.
Mehrere Stunden passierte nun gar nichts mehr. Dann waren hin und wieder leise und laute Schreie von Ana zu hören, danach wieder stundenlang nichts. Einmal hörte der Graf heftiges Klopfen, so als schlüge jemand mit einem Hammer auf die Dielen, zweimal eine Art Kratzen, als schabte jemand mit einem Kamm an der Holzwand. Plötzlich riss Cagliostro die Tür auf und verlangte lauthals Wasser, viel Wasser und einen Topf. Ohne zu fragen brachte man es ihm an die verschlossene Tür. Als Cagliostro öffnete, machte er einen euphorischen, leicht verwirrten Eindruck. Er verlangte sechs Laken und eine Schere. Auch dies brachte man ihm sofort. Als er die Tür wieder abgeschlossen hatte, begann Ana nach Leibeskräften zu schreien. Graf de la Tour saß in seinem Studierzimmer und hörte sich das Schreikonzert nachdenklich an, folgte den heftigen, harten Schritten auf den Dielen, den leichteren, nervöseren seiner Tochter, die offensichtlich kreuz und quer durchs Zimmer rannte. Manchmal war Cagliostros Stimme zu hören. Der jedoch bemühte sich, so leise zu sprechen, dass Graf de la Tour nicht verstehen konnte, was er zu Ana sagte. Es klang verhalten und kontrolliert, ohne jegliche
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