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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Stimme aus dem Gemurmel, die in einem erhabenen Predigerton irgendwelche Thesen verhandelte. Cagliostro stand auf der anderen Seite der Kutsche auf einem Bock und hielt dem lauschenden Publikum einen Vortrag über die menschlichen Sinne, den Tast- und den Sehsinn, Gehör, Geruch und Geschmack und beschrieb ausführlich, wie diese in uns ein Bild der Welt, so wie sie sich unseren Sinnen darbietet, entstehen lassen. Diese Realität, so Cagliostro, gelte es zu durchdringen und mit wachem Geist zu verstehen. Schon seit Jahrhunderten hätten die Menschen versucht, diese wahrnehmbare Welt zu verstehen, den
Schleier der uns gegebenen Realität zu lüften, und seit Hunderten von Jahren hätten sich Wissen und Techniken herausgebildet, um den großen Architekten dieser Welt in uns zu finden und zu verstehen. All dieses Wissen sei von Generation zu Generation weitergereicht, vermittelt und gelehrt worden. »Und so ist es mir gegeben worden, die Lehre der ägyptischen Pharaonen zu empfangen, die Lehre der Symbole, höhere Weisheiten, die Gesetzmäßigkeiten dieser Welt, heilende Praktiken. Es handelt sich hier nicht um mein persönliches Wissen, nicht um meine persönliche Überzeugung, nein, es handelt sich hier um eine jahrtausendealte Tradition, Weisheiten, die von einer ganzen Kette von Erleuchteten an uns weitergereicht worden sind. Sie haben ein Gebrechen? Müssen eine wichtige Entscheidung treffen? Wollen wieder zu Kräften kommen? Wollen heiraten, eine Familie gründen oder in Frieden sterben? Treten Sie ein, probieren Sie’s aus!«
    So sprach der Wunderheiler Cagliostro noch eine Weile weiter, zeigte hin und wieder auf eines der Symbole, die er auf seine Kutsche gemalt hatte, und zog das erstaunte Publikum in seinen Bann. Dann schloss er seine Rede und kündigte an, den Nachmittag und an den folgenden Tagen in seiner Kutsche für Konsultationen zur Verfügung zu stehen. Man möge ihm alle möglichen Gebrechen zeigen, nichts gebe es, was nicht geheilt werden könne.
    Gegen den frühen Abend, nach mehreren Stunden des unerträglichen Ausharrens in der Warteschlange, saß Graf de la Tour endlich in der Kutsch vor dem Meister.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte Cagliostro und blätterte in einem alten Buch.
    Hinter ihm befand sich ein mit Fläschchen und Dosen
vollgestelltes Regal. Jedes Objekt war mit einer Schnur festgebunden, so dass es während der Fahrt nicht herunterfallen konnte. An der Vorderkante der Ablagen waren kleine, beschriftete Emailtäfelchen montiert, Wörter und Namen, die Graf de la Tour nichts sagten. Einige Fläschchen waren sogar in arabischer Schrift, wieder andere nur mit Symbolen beschriftet. Cagliostro hatte einen schwarzen, mit goldenen Fackeln und Schlüsseln bestickten Mantel an. Auf der rechten Schulter trug er die schematische Darstellung einer Sphinx und auf der linken eine Figur mit einem Hundekopf. Sein langes Haar, das Cagliostro während seiner Ansprache zu einem Schwanz zusammengebunden getragen hatte, fiel nun offen über seine Schultern. Zwei Kerzen illuminierten die verdunkelte Kutsche, und brennendes Sandelholz hüllte den Raum in einen ätherischen, leicht betäubenden Geruch.
    »Es geht nicht um mich«, begann der Graf zögernd, »es handelt sich um meine Tochter.«
    »Und wo ist Ihre Tochter? Kann ich sie sehen?«
    »Das ist unter diesen Umständen leider nicht möglich. Sie müssten die Güte haben und sich zu ihr begeben.«
    »Wann?«
    »Am besten jetzt gleich.«
    Den Heiler schien das nicht weiter zu wundern oder zu stören. Und Graf de la Tour war froh, dass der Arzt vorerst keine weiteren Fragen stellte, sondern nur ein Blatt Papier aus der Schublade nahm, auf welchem bereits einige Linien zu einem Raster gezogen und vereinzelte Wörter voreingetragen waren. Oben rechts schrieb Cagliostro die Zahl 40 in ein Feld.
    »40 Louis für die Konsultation, 30 für jede weitere Stunde«,
kommentierte er das Formular und streckte es seinem Klienten zur Unterschrift hin. Graf de la Tour nahm die Feder und spürte die Genesung seiner Tochter mit jeder Schwingung der Feder in seinen Rechten verbrieft.
    Cagliostro folgte dem Grafen über den Platz. Die Menschenmenge hatte sich aufgelöst. Nur vor der Kutsche des Heilers stand noch eine lange Schlange ungeduldiger Patienten, die ihre Gebrechen schildern wollten. Als sie ihren Meister die Kutsche verlassen sahen, empörten sie sich und bewarfen den Grafen mit altem Gemüse und scheußlichen Schimpfwörtern. Cagliostro baute sich vor

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