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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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hundert Holzteile zusammenhielten und einen dem menschlichen Körper nachempfundenen Korpus mit schwenk- und neigbarem Kopf, beweglichen Armen, Händen und Fingern formten.
    Jean-Louis entwarf, zeichnete und berechnete, versank manchmal stundenlang in seine Skizzen, bevor er sich an die Konstruktion eines Teilstücks machte, und bemerkte plötzlich, dass er immer öfter leise vor sich hin sprach, wenn er an der Berechnung eines Winkels oder einer Hebelwirkung saß. Und auf einmal sagte Ana wie aus dem Nichts eine Zahl. Zuerst hatte er sie gar nicht gehört, zu sehr war er mit der Kalkulation eines Drehmoments beschäftigt. Erst als er das von ihm selbst schriftlich ausgerechnete und notierte Resultat auf dem Papier noch einmal betrachtete, stellte er fest, dass Ana genau diese Zahl eben gerade mehrmals vor sich hin gesagt hatte, als rezitierte sie eine Litanei.
    »Ana«, sagte er erstaunt, »wiederhol das bitte.«
    »Siebenundachtzig mal die Wurzel aus fünf, das Ganze geteilt durch drei macht vierundsechzig Komma acht fünf, gerundet auf zwei Stellen«, sagte Ana, ohne ihn anzublicken.
    »Das hast du im Kopf ausgerechnet?«, stellte Jean-Louis fest, denn es war genau die Rechnung, die er schriftlich gelöst hatte. Aber vielleicht hatte sie seine Notizen mitverfolgt, und er stellte ihr eine neue Aufgabe. Die Lösung kam sofort aus ihrem Mund, in ihrem gewöhnlichen, unbeteiligten, beinah gelangweilten Ton.
    »Das ist nicht möglich, Ana! Wo hast du das gelernt?«, rief Jean-Louis fasziniert und schockiert zugleich. Mehrere Stunden prüfte er nun Anas Rechenkünste mit allen möglichen
Rechenoperationen und bis in sehr hohe Zahlen. Nichts schien ihr auch nur das geringste Problem zu machen. Jede noch so komplizierte Rechnung bewältigte sie mit Leichtigkeit, erstaunlicher Schnelligkeit und absoluter Sicherheit.
    »Wie machst du das?«, fragte er schließlich erschöpft vom vielen Rechnen. Ana schaute ihn mit einem fernen, leicht abwesenden, aber hellen Blick an.
    »Ich höre sie«, sagte sie beinah flüsternd, »die Zahlen klingen. Nenn mir eine Zahl, und ich höre ihren Ton.«
    Ana drehte sich von Jean-Louis weg, so als wollte sie nicht darüber reden, schloss die Augen und wiegte eine Weile ihren Kopf. Aber dann fuhr sie fort. »Es gibt Zahlen, die klingen hell und leicht. Es gibt Zahlen, die haben einen strengen und traurigen und trägen Ton. Und es gibt Zahlen, die klingen beschwingt und munter, beinahe leichtfertig. Aber die interessantesten sind die Komplizierten, Verschachtelten, die Mehrstimmigen, die Launischen. Es gibt so viele Klänge, wie es Zahlen gibt. Jede Zahl hat ihren bestimmten Platz in meinem Ohr, in der Welt. Und mit den Klängen musst du behutsam umgehen, sonst verstummen sie. Du darfst sie nicht erschrecken! Sonst stirbt ihr Ton, und der Klang verwaist.«
    »Und die Rechnungen?«, fragte Jean-Louis, »wie machst du das? Wie kannst du so komplizierte Rechnungen lösen?«
    »Alles ist Klang«, sagte Ana eintönig und starrte zu Boden, »die Welt klingt. Du brauchst nur hinzuhören. Alles ist Klang und Musik und Melodie. Die Rechnungen, die Spiele, die Räume, die Menschen. Auch dich kann ich hören. Horch nur!«

    Ana senkte den Kopf und schloss die Augen. »Dein Klang ist manchmal rund, manchmal aufgekratzt, manchmal auch dumpf und abweisend. Aber du hast einen sehr schönen Klang, und ich kann dich sehr gut hören. Hörst du dich? Und wenn wir spielen, dann höre ich auch deine Gedanken.« Ana streckte ihren Arm aus, die Augen weiterhin geschlossen, so als tastete sie nach etwas Unsichtbarem. Jean-Louis tat es ihr gleich und horchte in die Stille des Kellers. Außer ihrem leisen Räuspern und dem eigenen Atem konnte er nichts hören. Seit Monaten lebte er in diesem Keller, abgeschottet vom Licht und vom Klang der Welt. »Du hörst nicht richtig zu«, sagte Ana, »du musst genauer hinhören.«
    Jean-Louis beobachtete Ana, wie sie sich beim Sprechen konzentrierte, ihren Kopf leicht hin und her wiegte. Ihre Gesichtszüge verzogen sich mehrmals und verrieten innere, krampfhafte Anstrengung. Zum ersten Mal seit ihrer Begegnung versuchte Ana ihm etwas über sich mitzuteilen, etwas, worüber sie noch nie gesprochen haben mochte, aber Jean-Louis verstand nicht, was in ihr vorging, was sie erlebte, wovon sie redete. Und während Ana sich mehr und mehr in ein unverständliches Geplapper über Zahlen, Räume und Töne verstrickte, wurde ihm klar, dass ihre Klangwelt, sofern sie existierte und nicht nur ein

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