Das taube Herz
Die Kälte und der Lichtmangel im Keller griffen Jean-Louis’ Gesundheit an. Die Entzündung seines Rachens wuchs in die Lungenzweige und in die Stirnhöhle, ergriff den gesamten rechten Lungenflügel, und wenn er dem Hustenreiz nachgab, hatte er das Gefühl, als risse ihm ein unheiliger Engel Fetzen aus der Brust. Das Fieber stieg stündlich, und wenn er sich unter größter Anstrengung zur Tür begab, um die bereits kalt gewordene Suppe zu schlürfen, verlor er den Boden unter den Füßen, blieb stundenlang liegen; wie viele, wusste er nicht, rappelte sich erschöpft zurück auf die Pritsche und schaffte es schließlich nicht einmal mehr, sich aufzurichten. Er hatte keine Ahnung, wie lange er halb delirierend auf der feuchten, modrigen Pritsche gelegen hatte, als er, vom Duft einer warmen Suppe ins Bewusstsein zurückgeholt, die Augen öffnete. Vor ihm stand die dampfende Schüssel. Daneben hockte Ana und starrte auf den Boden, wiegte leicht den Oberkörper, bewegte die Lippen, lautlos.
Jean-Louis schlürfte die Suppe. Es war wohl nicht das erste Mal, dass Ana ihm das Essen gebracht hatte. Spuren auf seinem Hemd und auf der Liegepritsche zeugten von früheren Ernährungsmanövern, an die er sich jedoch nicht erinnerte.
Ana nahm die leere Schüssel und stellte sie auf den Tisch zurück. Dann setzte sie sich wieder neben Jean-Louis, wiegte den Oberkörper leicht hin und her und starrte dabei auf den Boden.
»Es gibt nur einen Weg«, sagte sie leise, ohne ihn anzuschauen. Jean-Louis versuchte sich aufzurichten, aber ihm wurde sofort schwindlig. Erschöpft ließ er sich wieder auf die Pritsche sinken. Ana wiederholte, was sie gesagt hatte. Ihre Stimme klang zerbrechlich, schüchtern und bestimmt zugleich. Sie hatte das verfilzte Haar nach hinten gebunden, und ihr bleiches, mageres Gesicht strahlte vor Entschlossenheit. »Es gibt nur einen Weg.«
»Was für ein Weg?«, fragte Jean-Louis. »Was meinst du damit?«
»Um hier rauszukommen«, antwortete Ana prompt, unterbrach ihre wiegenden Bewegungen und schaute ihn ernst an. Sie hatte helle, grünblaue Augen, die ihn aus einer schier unüberwindbaren Ferne anblickten. Jean-Louis versuchte noch einmal, sich aufzusetzen, um sie besser hören zu können. Aber er spürte sofort, wie ihm das Bewusstsein von Neuem zu entgleiten drohte. Mit aller Kraft klammerte er sich an Anas Stimme, die nun in sein Ohr flüsterte.
»Der Automat«, sagte sie fordernd, »er ist die einzige Chance. Du musst ihn bauen, Jean-Louis, bau den Automaten für mich, bau ihn für dich, er wird mich hinausbefördern, er wird dich aus diesem Gefängnis befreien.«
3
Zum ersten Mal hatte Jean-Louis Ana sprechen gehört. Im Gegensatz zu ihrer äußeren Erscheinung wies Anas Stimme nichts Verstörtes, nichts Unangenehmes oder Ungewöhnliches auf. Manchmal wiederholte sie unnötigerweise einen Satz, eine Phrase oder auch nur ein Wort. Aber das blieb die einzige Auffälligkeit neben der Tatsache, dass Ana sehr selten und auch nur wenig sprach. Jean-Louis’ Krankheit hatte in ihr etwas in Bewegung gesetzt, das konnte er spüren. Zuerst hatte sie angefangen, ihn mit Wasser und etwas Brot zu versorgen, um ihn dann, kaum hatte er ihre Stimme durch den Nebel seines fiebrigen Bewusstseins wahrgenommen, aufzufordern, den verrückten Plan ihres Erpressers auszuführen. Nicht sofort begriff Jean-Louis die Tragweite dieser Aufforderung. Es dauerte mehrere Tage, bis das Fieber endlich sank und er langsam etwas klarere Gedanken fassen konnte. Nicht nur, dass Ana normal sprechen konnte, erstaunte ihn. Noch viel erstaunlicher war, dass sie Montalliers Auftrag, den Grund ihres und seines Daseins voll und ganz begriffen und auch ihre eigene Funktion innerhalb des geplanten Automaten verstanden hatte. Plötzlich erschien ihm Ana nicht mehr wie ein geniales Monster, als welches Montallier ihm die verstörte, unter schmutzigen Tüchern und Stroh versteckte Frau vor einigen Wochen vorgestellt hatte. Während
Ana sich um ihn kümmerte, sah Jean-Louis ihre feinen, zarten Gesichtszüge unter dem zur Seite geschobenen, verfilzten Haar, er fühlte ihre knochigen, aber straffen Hände, die ihm den Rücken, den Nacken und die vom langen Liegen matten und schweren Arme und Beine massierten. Diese plötzliche Nähe irritierte ihn, aber er war zu schwach, um über eine leichte Verwunderung hinauszukommen. Erschöpft gab er sich den langsamen, abwechselnd zarten und straffen Knetbewegungen hin und spürte, wie diese Massagen seinen
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