Das taube Herz
Gluck zu schlagen, sie wieder auf die Seite zu legen und das Instrument selbst mit einem Deckel zu versehen, um dann galant an den Zahlenrädern jede beliebige Rechenaufgabe zu lösen oder gar auf dem direkt auf die Tischplatte gemalten Spielbrett gegen Herausforderer jeglichen Ranges mehrere Schachpartien zu spielen.
Aber die Übersetzung des äußeren Figurenspiels ins Innere des Kastens stellte sich als schwieriger heraus als gedacht. Allein der Mechanismus der aufzulegenden Tischplatte und des sich darunter zurückziehenden Zimbals kostete Jean-Louis mehr als zwei Wochen des Nachdenkens, der Planung, Berechnung und Konstruktion. Er musste es schaffen, den gesamten Korpus der gespannten Metallsaiten so zur Seite abzukippen, dass Ana, mit leicht angewinkelten Beinen im Kasten liegend, Sicht auf die Unterseite des Spielbretts bekam. Denn das war Montalliers Überzeugung, dass von Kempelen die Schachfiguren mit kleinen Magnetbolzen und das Spielbrett auf der Unterseite mit beweglichen Metallplättchen ausgestattet
hatte, so dass jedes Anheben und Absetzen einer Figur eine kleine, aber wahrnehmbare Bewegung der Metallplättchen auslöste. Damit konnte das Spiel im Innern des Holzkastens mitverfolgt und auf einem zusätzlichen kleinen Brett nachgestellt werden.
Montallier hatte für diesen Mechanismus bis ins Detail genaue Pläne gezeichnet, damit sein Konstrukteur ihn genau so nachbaue. Jean-Louis hatte mehrere Möglichkeiten ausprobiert, aber der Wechsel vom Musikinstrument zum Spiel- und Rechentisch wollte nicht funktionieren. Tagelang legte sich Ana immer wieder in die lange, zusammenklappbare Holzkiste und versuchte, die Bewegung des Wechsels mitzuverfolgen, sich mit Bein- und Armstellungen in diesen Mechanismus einzufügen, ohne irgendwelche Geräusche zu verursachen. Aber es wollte und wollte nicht funktionieren. Der Sockel, den Jean-Louis einem Schaukasten nachempfunden und mit vielen Türchen und Schubladen ausgestattet hatte, gab gerade so viel Raum her, dass Ana sich, in dem in drei Teilen aufund zuklappbaren Holzbalken liegend, jeweils der neuen Konstellation von geöffneten und geschlossenen Türen und Schubladen anpassen konnte. Die Kombination des Saiteninstruments mit dem Versuch, das Spiel auf der Unterseite des Schachbretts über magnetische Reaktionen mitzuverfolgen, verkomplizierte alles so, dass jede Lösung ein neues Problem hervorrief, welches durch eine zusätzliche Lösung wiederum neue Probleme aufwarf. Je länger Jean-Louis an der Übersetzung ins Innere des Kastens arbeitete, umso stärker verstrickte er sich in eine unendlich sich fortsetzende Kette von Problemen, denen er jetzt mit mechanischen Lösungen auf den Leib rückte, nur um Zug
für Zug tiefer in die Komplexität des ganzen Apparats verstrickt zu werden. Die Maschine, wie er den Automaten inzwischen für sich nannte, begann ihm über den Kopf zu wachsen. Alle Einzelteile funktionierten korrekt. Der bewegliche, hohle Holzbalken, der Anas schlanken und biegsamen Körper verbarg, die Übersetzungen ihrer Arm- und Fingerbewegungen in die Holzarme und Porzellanfinger der Puppe, das Drehen der Räder der Rechenmaschine, die Übertragung der Melodien von der Walze auf das Zimbal, die höflichen Körperbewegungen der hölzernen Königin zur Begrüßung, zum Spielbeginn, zum Abschluss und zum Abschied. Aber all die künstlichen Bewegungen wollten sich nicht zu einem Ganzen fügen. Tagelang saß Jean-Louis vor der auf dem frisch zusammengebauten Holzsockel thronenden mechanischen Marie Antoinette, während Ana drinnen im hohlen Balken lag und alle möglichen Varianten und Stellungen wieder und wieder ausprobierte. Gemeinsam komponierten sie Abläufe und Bewegungen der einzelnen Kastenteile und suchten verbissen nach einer Möglichkeit, den reibungslosen Übergang vom Zimbal zum Spieltisch zu schaffen. Je länger Jean-Louis sich an diesem Problem den Geist aufrieb, umso kräfte- und ideenloser wurde er. Das Scheitern an dieser Aufgabe würde ihn nicht nur die Ehre kosten, dachte er entmutigt, denn wollte er sein und Anas Leben retten, dann musste er dieses Monster einer Maschine bewältigen, bevor sie ihn und seine Gefährtin erledigte. Eher würden sie beide in diesem gekachelten Keller zwischen all den Metall- und Holzkonstruktionen krepieren und verdorren, als dass Montallier sie wieder aus seiner Gewalt freigäbe. So wie ihr Erpresser Kempelens Schachautomaten mit dessen eigenen Mitteln
schlagen wollte, so musste nun auch Montallier
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