Das taube Herz
Gliedern und dem ganzen Körper langsam wieder Leben einflößten. Mit zunehmendem Bewusstsein erkannte Jean-Louis unter dem filzigen Haar und den schmutzigen, zerfransten Leinenstoffen eine magere, jedoch aufrechte und grazile Frau, deren Körper trotz der Verwahrlosung seine Würde und seine Weiblichkeit nicht verloren hatte. Als Jean-Louis zum ersten Mal einen Arm bewegte, um ihr dankend die Hand auf die Schulter zu legen, wich sie zurück, erstarrte für einen kurzen Augenblick und verkroch sich in ihren Kerker. Sie zeigte sich nicht mehr, bis Jean-Louis von Neuem eingeschlafen war.
Später, als sein Bewusstsein zurückkam wie ein reuiger Hund, saß sie neben ihm, mit einer Schüssel Wasser und einem Tuch. »Ich wasch dir das Gesicht. Du hast lange geschlafen«, sagte sie, ohne ihn anzublicken, tauchte eine Ecke des Tuchs ins Wasser und strich damit über seine Stirn, seine Wangen und den Hals. Jean-Louis fühlte sich besser, wusste jedoch nicht, wie viele Tage oder gar Wochen er zwischen fiebrigen Träumen und halber Ohnmacht hin und her schwankend auf der Pritsche gelegen hatte. Der Gewichtsantrieb der kleinen Wanduhr, die er für seine zeitliche Orientierung im Keller gebaut hatte, war
längst stehen geblieben, und auch Ana konnte ihm dazu nichts sagen. Die Abwesenheit des Tageslichts im Keller machte eine zeitliche Orientierung völlig unmöglich, auch wenn Montallier in steter Regelmäßigkeit das Essen herunterbrachte und den Latrinenkübel leerte. Die Speisen wiederholten sich in so monotoner Weise, dass selbst diese einzige zuverlässig voranschreitende Unruh sich nach und nach der Wahrnehmung entzog und in der Stille des Kellergewölbes auflöste.
Während Jean-Louis sich langsam vom Fieber erholte, bekräftigte Ana mehrmals ihre Forderung, er möge Montalliers Plan Folge leisten und sich noch heute an die Arbeit machen. »Heute« war ein vager Begriff, denn noch war es ihm kaum möglich, länger als eine Stunde aufrecht zu sitzen oder gar zu stehen. Die Einsicht aber, dass der einzige Weg aus dem Kerker und aus den Fängen des wahnsinnigen Montalliers tatsächlich über die Konstruktion des von ihm verlangten Automaten führte, gab Jean-Louis neue Kraft. Und innerlich hatte er sich längst an die Arbeit gemacht.
Ana wich nun nicht mehr von seiner Seite. Es war ihm ein Rätsel, was mit ihr während seiner Krankheit geschehen war. So wie er zu Beginn ihrer gemeinsamen Gefangenschaft über das Schachspiel mit ihr kommuniziert hatte, konnte er jetzt, wenn auch mit begrenztem Wortschatz, normal mit ihr reden. Ana blieb jedoch den Umständen des Augenblicks, dem sie umgebenden Raum und Jean-Louis’ Gegenwart verhaftet. Wenn er nach ihrer Herkunft oder nach den Erlebnissen in Nizza fragte, verstummte sie, starrte zu Boden und wiegte leicht ihren Oberkörper,
versank in Trance, bekam einen leeren, kalten Blick und blieb für unbestimmte Zeit unnahbar. Aber auch dieses Abgleiten in den Schlaf mit geöffneten Augen wurde nach und nach seltener und kürzer, so dass Jean-Louis es schließlich kaum mehr bemerkte, als gehörte das sporadische Abbrechen des Kontakts zur Eigenart und zum Charakter dieser Frau.
Ana arbeitete nun an seiner Seite an einem gemeinsamen, verrückten Plan, den sie ganz aus sich heraus anpackte, da er doch sie selbst als Person in Szene und ins Zentrum setzte. So als handelte es sich bei der Konstruktion des Schach spielenden Automaten bloß um eine Erweiterung ihres eigenen Spiels, ihres Könnens, ihres Körpers, als ginge es darum, die Beweglichkeit ihrer Arme und Fingerspitzen zu verlängern, zu verfeinern, ihnen größere Reichweite und umfassenderen Einfluss zu geben. Noch bevor Jean-Louis sich richtig an die Arbeit machen konnte, hatte Ana eine klare Vorstellung dessen, wie sie die Zimbal spielende Puppe der Königin Marie Antoinette über ihre eigenen Finger-, Arm- und Beinbewegungen nicht nur Musik, sondern auch Schach spielen lassen konnte. Obwohl Ana jegliches mechanisches und technisches Wissen fehlte, konnte Jean-Louis sich auf ihre Vorstellungskraft und ihre Vorschläge verlassen, ihr auf dem Weg der Mechanik entgegenkommen, sie gleichsam mit technischen Mitteln umfassen und einbetten in eine Konstruktion, die ihre feinen, bestimmten Bewegungen aufnahm, übersetzte und sie in die innere Mechanik der Holzpuppe der Marie Antoinette übertrug, in die Scharniergelenke, Schnur-, Seil- und Drahtverbindungen, in die Nockenwellen und Federzüge, welche alle zusammen
mehrere
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