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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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mit seinen eigenen Mitteln und Waffen ausgehebelt und überlistet werden.
     
    Sieben Monate waren vergangen, seit Jean-Louis zum letzten Mal das Tageslicht gesehen hatte. Sein Körper probte den Zerfall. Das Haar hatte sich auf seinem Kopf zu dicker Wolle verknotet, der Bart hing ihm filzig vom Kinn, und die seit Monaten ungewaschenen Kleider, die ihm in Ferney noch den Bauch eingezwängt hatten, fielen ihm nun fast vom Leib, so mager war er durch die immer gleiche Kost inzwischen geworden. Wenn er sein Gesicht in einem der kleinen Handspiegel, die er für das Konstruieren von komplizierten Mechanismen manchmal brauchte, betrachtete, glaubte er, dem Tod persönlich ins Antlitz zu sehen. Aber der Schrecken in seinem eigenen Blick, das wusste Jean-Louis, stammte nicht vom körperlichen Zerfall, dem er sich hilflos ausgesetzt sah, sondern keimte in der zunehmenden Gewissheit, dass er die Maschine, so wie Montallier sie von ihm verlangte, nicht zur Perfektion führen konnte, dass sein Ziel, sich und Ana aus diesem Kerker zu befreien, mit jedem erfolglosen Versuch immer weiter in die Ferne rückte. Das Scheitern an der technischen Aufgabe fraß sich durch sein Gemüt und seine Inspiration und hinterließ Ohnmacht und Lähmung. Beinah schien ihm, als lachte ihm seine eigene ausgemergelte Fratze durch den Spiegel hämisch zu, als er, für eine Sekunde nur, durch einen kleinen, in einer winzigen Porzellanhand sitzenden Kinderspiegel Ana hinter sich erkannte. Kaum zwei Schritte entfernt stand sie da und blickte ihn durch den Spiegel streng und entschlossen an,
so wie sie zu blicken pflegte, wenn in ihr etwas vorging, wenn sich in ihr eine Erkenntnis bildete, wenn sie etwas sagen wollte.
    »Hier stehe ich hinter dir«, sagte sie leise und schaute ihn weiter durch den kleinen Spiegel an, »und sehe doch dein Gesicht, als ob ich vor dir stünde.«
    Im Spiegel betrachtete Jean-Louis ihr bleiches Gesicht, die funkelnden, beinah strahlenden grünen Augen und wusste, noch während sie sprach, die Lösung, als entfaltete sich, einem Zaubertrick gleich, aus einem kleinen Taschentuch eine Taube, dann eine zweite, eine dritte und schließlich ein ganzer Schwarm.
    »Natürlich, ein Wallgucker!«, rief Jean-Louis aus. »Warum bin ich nicht früher darauf gekommen! Mit einigen Spiegeln lässt sich der Blick durch den Kasten, durch die Puppe und von dort auf das Spielbrett richten!«
    Es gab noch eine Reihe weiterer Automaten, an denen sich kleine Spiegel als Zierrat befanden. Diese baute Jean-Louis nun schleunigst zu einem in den Kasten der Grande Dame eingepassten Periskop zusammen.
    Statt das Spiel über den komplizierten Mechanismus der durch Magnetismus bewegten Metallplättchen auf ein zusätzliches Spezialbrett zu übersetzen, sollte Ana das Spiel durch die Spiegel bequem mit eigenen Augen mitverfolgen können. Aber das übertragene Bild war sehr klein und nur schwer zu entschlüsseln. Was ihm fehlte, waren Linsen.
    Kurz nachdem Jean-Louis den Bau des Periskops in Angriff genommen hatte, betrat Montallier den Keller wie üblich mit Suppe, Wasser und sauberen Latrinenkübeln. Aber diesmal trug er zusätzlich zwei lange Rohre unter dem
linken Arm, die er kommentarlos auf den Arbeitstisch legte. Es handelte sich um zwei alte Fernrohre, deren Linsen Jean-Louis genau die Optik lieferten, die ihm fehlte. So nützlich diese Geste Montalliers für Jean-Louis’ Konstruktion des Periskops war, so beunruhigend war sie auch, denn auf irgendeine Weise hatte Montallier seine Gedanken erraten und von seinem Plan und seiner Konstruktion erfahren. Auf irgendeine Weise musste Montallier ihn beobachten, ihn kontrollieren, seine Handlungen und sein Vorankommen mitverfolgen. Augenblicklich suchte Jean-Louis alle Wände nach Gucklöchern ab, nach versteckten Schächten und Öffnungen. Er löschte alle Kerzen und Lampen und suchte nach einem Lichtschimmer, der eine Verbindung zur Außenwelt anzeigte, vergeblich. Jean-Louis war trotzdem überzeugt, dass Montallier ihn kontrollierte und überwachte, aber er hatte keine Ahnung, auf welche Weise er dies bewerkstelligte. Zur Sicherheit räumte Jean-Louis alle Pläne und Skizzen in Mappen und Schubladen, verdeckte Zeichnungen und Notizen, verbrannte wichtige Teile seiner Aufzeichnungen, um sich seinem Erpresser nicht ganz auszuliefern. Wenn er die Macht über den Automaten behalten wollte, dann musste er von nun an viel vorsichtiger vorgehen. Gleichzeitig durfte er kein Misstrauen auf sich lenken und zwang

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