Das taube Herz
den Verlauf des Spiels mitzuverfolgen, Entscheidungen zu treffen und diese über die Bewegungen der Holzpuppe nach außen auf das Spiel zu übertragen. Beim Betrachter sollte der Eindruck entstehen, als spielte die Nachbildung der Königin Marie Antoinette, die bereits ein Musikstück zum Besten gegeben hatte, auch noch eine Partie Schach, angetrieben
von nichts anderem als einem großen Federwerk, einigen Rädern und der technischen Raffinesse Jean-Louis Sovarys alias Blaise Montallier. Obwohl das Ziel dieses ganzen Unternehmens die Demontage Wolfgang von Kempelens sein sollte, obwohl mit der Konstruktion dieses Automaten einzig und allein demonstriert werden sollte, dass Automaten und Maschinen des Denkens nicht fähig sind, so spitzfindig und komplex ihre Konstruktionen auch sein mochten, konnte Jean-Louis sich nicht vorstellen, wie es möglich sein sollte, die verängstigte, scheue, halb verhungerte Ana de la Tour dazu zu bringen, diesen durch und durch unmenschlichen Plan mitzuspielen, sich in diese Kiste zu begeben und den Instruktionen, Befehlen und Abläufen zu folgen, jede Bewegung genau auszuführen, ohne sich dabei durch Verrenkungen und Atemgeräusche zu verraten. Je weiter Jean-Louis mit der Arbeit am Automaten voranschritt, umso monströser erschien ihm das ganze Unternehmen. Je näher er der Notwendigkeit rückte, mit Ana Versuche starten zu müssen, umso stärker wuchsen in ihm die Widerstände. Mehrmals versuchte er, Montallier abzufangen, wenn dieser mit der Mahlzeit in den Keller herunterkam. Er schrie und tobte und wünschte seinen Peiniger zur Hölle, ohne Erfolg. Montallier blieb stumm und riegelte die Kellertür ab wie jeden Tag.
Jeglicher Hoffnungen beraubt, legte Jean-Louis eines Abends - oder war es an einem frühen Morgen? Jean-Louis hatte die Orientierung in der Zeit verloren - die Werkzeuge nieder, ließ sich auf die behelfsmäßig eingerichtete Liegepritsche sinken und sollte sich von dort mehrere Tage nicht mehr erheben.
Er starrte an die gekalkte Kellerdecke, um all die Puppen,
Automaten und Konstruktionen, um diese schauderhafte Bevölkerung um ihn herum nicht mehr sehen zu müssen. Dieser Wald von Porzellangesichtern, Holzfingern, Messinggelenken, Lederhäuten, all diese echten Haare auf falschen Köpfen, diese falschen Gelenke in echten Uhrwerken, all diese Gaunereien waren ihm plötzlich ein Graus, ein Schauerzirkus, das Werk eines Verrückten, eines Übergeschnappten. Dieser ganze bis zum letzten Zentimeter ausgekachelte Keller war das Universum eines Wahnsinnigen, der zwischen Menschen und Objekten keinen Unterschied mehr machte. Ana de la Tour, die hölzerne Marie Antoinette, die federgetriebene Orgel, die nachgebaute Pascaline, Jean-Louis selbst sowie all die Schrauben und Federn, das Metall- und Holzgestänge, die Seile und Federn und Stoffe, alles, was sich in diesen Räumen über Jahre angesammelt hatte, diente einzig und allein dem Ehrgeiz eines verrückten Geistes. Dieses kranke Hirn hatte sich in diesen Räumen ausgebreitet und machte sich jeden Gegenstand, jedes Objekt, jegliches Wesen zunutze, integrierte alles in eine verrückte Maschinerie, zwang die zur Verfügung stehenden Ingredienzien in eine absurde Mechanik des Wahnsinns.
Jean-Louis war nicht mehr Jean-Louis, er war Bestandteil eines Plans, einer Konstruktion, er war auserkoren zum Maître de chantier einer vermeintlich intelligenten Maschine, er war das unabdingbare Herzstück eines komplexen Uhrwerks geworden. Und dies, dieser Schritt, die Erhöhung der montre compliquée zur montre complexe , war der entscheidende Punkt, das war es, was Montallier von Jean-Louis verlangte, ein Mechanismus, der nicht nur die lineare Logik der Mechanik, sondern auch die zirkulare,
vernetzte Komplexität eines menschlichen Hirns integrierte, eines Hirns obendrein, eines weiblichen, das so verschlossen, so verschlungen und unfassbar war, dass Jean-Louis bei diesem Gedanken die Orientierung verlor - in der Zeit und im Raum. Und er klammerte sich am einzigen von der Außenwelt gegebenen Anhaltspunkt fest, dem regelmäßigen Rasseln der Schlüssel, wenn Montallier die Tür aufschloss, um das Essen zu bringen und die Latrinenkübel auszuwechseln. Jean-Louis vergaß, die Suppe, das Brot, den Käse zu essen. Vergaß auch, einen Teil Ana zu bringen. Die Tür zu ihrem Kerker stand seit Wochen offen, so dass Ana, vom Hunger getrieben, sich nun selbst bis an den kleinen Tisch in seiner Werkstatt traute, um dort etwas Essbares zu holen.
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