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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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momentanes Delirium darstellte, sich nicht in seinem Hörbereich befand, dass er sie niemals nachvollziehen oder gar verstehen konnte. Aber diese außergewöhnliche Rechenkunst, egal, wie Ana das anstellte, diese einzigartige Fähigkeit, komplizierte arithmetische Operationen ohne schriftliche Hilfsmittel blitzschnell im Kopf zu lösen, das war ihm sofort klar geworden, gab ihnen einen enormen
Vorsprung. Der Automat des Barons von Kempelen konnte wohl Schach spielen, aber Rechenaufgaben lösen, so wie das mit der Pascaline ansatzweise möglich war, das konnte er nicht. Der Schachtürke konnte zwar auch nicht Zimbal spielen, aber das war wenig beeindruckend im Vergleich zu all den bereits existierenden Musikautomaten. Was ihnen wirklich einen Vorsprung geben würde, das waren Rechenaufgaben, die öffentliche Aufführung einer Rechenmaschine.
    Noch in derselben Stunde schnitt Jean-Louis mehrere Holzräder zurecht, bemalte deren äußeren Rand mit den regelmäßig verteilten Ziffern Null bis Neun und baute die Räder in drei Gruppen neben das Spielbrett in die Tischplatte ein, welche das Zimbal für die Schachpartien bedecken sollte. Zwischen die ersten beiden Rädergruppen setzte er ein allein stehendes, mit den verschiedenen mathematischen Operationszeichen versehenes Rad. Die letzte Gruppe der Räder diente dem Anzeigen des Resultats. Jeder willige Zuschauer konnte so mithilfe der Räder eine beliebige mathematische Operation zusammenstellen. Ana ihrerseits hatte nun die Möglichkeit, während sie ihren inneren Klängen und Melodien folgte, diese mit der dritten Rädergruppe in Sekundenschnelle in das Resultat zu übersetzen. In nur drei Tagen hatte Jean-Louis einen Rechenautomaten gebaut, der nicht nur die Pascaline, sondern auch alle bis dahin bekannten Rechenmaschinen zu überbieten vermochte. Und obendrein erlaubte ihm diese Einrichtung, fortan mit Anas Hilfe alle anfallenden mathematischen Probleme in einem Bruchteil der Zeit zu lösen, die er bisher mit eigenen schriftlichen Kalkulationen dafür benötigt hatte.

    Gemeinsam überdachten und revidierten sie nun den versteckten Mechanismus vollständig und passten ihn an Anas Vorschläge, Wünsche und Bedürfnisse an. Für ihren schlanken und überaus biegsamen Körper schreinerte Jean-Louis eine lange, schmale, in mehrere Teile aufklappbare, passgenaue Holzform, welche, einmal geschlossen, außer einem kleinen Loch für die Luftzufuhr, nicht das geringste Anzeichen ihres Inhalts aufwies. Sie glich ganz im Gegenteil einem starken, langen Balken, dessen tragende Funktion innerhalb der größeren Holzkonstruktion, welche für die Aufrichtung der beweglichen Puppe und des Zimbals notwendig war, außer Frage stand. Die Grundstruktur für den Mechanismus des beweglichen, dreifach knickbaren Hohlbalkens hatte Jean-Louis aus einem kleinen, schwach bedruckten und mit ungenauen Skizzen versehenen Heft, das einige der wichtigsten Zaubertricks versammelte. Es war eine von Montalliers Hauptvermutungen gewesen, dass Wolfgang von Kempelen sich für die Konstruktion seines Schachautomaten vor allem auf Praktiken und Effekte billiger Schaubudentricks gestützt hatte, diese jedoch so gekonnt und souverän in Szene setzte, dass die eigentliche Trivialität der Konstruktion durch die blendenden Effekte für die Betrachter und auch für Experten unerkannt blieb. Das Legen falscher Spuren, das Kreieren falscher Vermutungen und Verdachtsmomente, diese ganze tromperie , wie Montallier sich ausdrückte, war das eigentliche Genie, aber auch der Betrug und der Skandal des österreichischen Barons. Statt seine beeindruckende Aufführung als kunstvolle Unterhaltung aus dem Bereich der Zauberkünste vorzustellen, pries er den Automaten als höchste Errungenschaft der Wissenschaft
und des Fortschritts an und beanspruchte den Rang eines genialen Wissenschaftlers. Die Tatsache, dass es möglich war, den Automaten nachzubauen oder sogar zu verbessern, so Montalliers Überzeugung, sollte Beweis genug sein, um Kempelen zu entlarven und ihn der Lächerlichkeit preiszugeben. Und dieses ehrgeizige Unternehmen, das wusste Jean-Louis nur zu gut, baute einzig und allein auf seine eigenen Konstruktionskünste.

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    Die hölzerne, bis in die Fingerspitzen manipulierbare Nachbildung der Königin Marie Antoinette war nun auf einen kastenartigen Sockel gebaut. Stolz saß sie vor ihrem mit Stahlsaiten bespannten Instrument, bereit, entweder nach zwei Hämmerchen zu greifen und damit auf dem Zimbal Melodien von

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