Das taube Herz
sich, die Konstruktionen ihren normalen Lauf nehmen zu lassen.
Ana bekam nun also die Öffnungen der beiden alten Teleskope vor die Augen gesetzt und sah das Spiel und die Rechenaufgaben durch das fertige Periskop in voller Schärfe. Obendrein hatte sie so ein besseres Koordinationsgefühl für die über Fäden und Hebel bewegten Arme
und Finger der Puppe. Auch die Rechenaufgaben konnte sie so ganz einfach über die äußeren, auf dem Tisch erscheinenden Zahlen erledigen und mit einem Finger der linken Hand die Zahlenräder drehen, um das Resultat einzustellen. Jean-Louis benutzte die schillernde Halskette der Königin, deren Preziose in Form einer einem Diamanten nachempfundenen großen Glaskugel im Dekolleté lag. Daraus machte er eine Art künstliches Auge, welches das Bild des darunterliegenden Tisches einfing und dieses über die Spiegel und Linsen durch den Körper der Puppe hinunter bis zu Ana übersetzte. Damit war das größte Problem gelöst, und Jean-Louis konnte sich endlich der Verfeinerung und Perfektionierung der einzelnen Mechanismen widmen.
Jede Tür, jede Schublade, jede Öffnung, die Einblick in das Innere des Holzsockels bot, um dem Publikum die intelligente Konstruktion vorzuführen, musste mit den Bewegungen und Gelenken des Hohlbalkens abgestimmt werden, in welchem Ana sich von einem Zustand zum nächsten in die Konstruktion einfügte. Nicht nur die rituell vorgeführten Darbietungen einer genau abgestimmten Abfolge der einzelnen Türchen sollte funktionieren, sondern die durch das Publikum völlig zufällig getroffene Wahl einer Klappe oder einer Schublade musste jeweils richtig umgesetzt und durch Hebelbewegungen so aufgefangen werden, dass weder zusätzliche Geräusche entstanden noch irgendetwas anderes Anas Anwesenheit verriet.
Oft schlürften sie nach stundenlanger Arbeit die kalt gewordene Suppe, knabberten schweigend an dem harten Brot, das Montallier ihnen reichlich herunterbrachte. Und vermehrt kam es vor, dass beide neben dem Automaten
niedersanken, um einige Stunden zu schlafen. Seit mehreren Wochen kehrte Ana nicht mehr in ihren Kerker zurück, sondern blieb ununterbrochen an Jean-Louis’ Seite, legte sich, wenn er sich auf seine Pritsche warf, in den Hohlbalken im Automaten und schlief dort in dieser ihrem Körper angepassten Form, bis Jean-Louis sich wieder an die Arbeit machte. Es war während der Arbeit am Periskop, welches viele Berechnungen und millimetergenaue und präzise Metallkonstruktionen verlangte, um ein scharfes Bild zu liefern, als Jean-Louis vor dem Automaten an Ort und Stelle niedersank und einschlief. Als er aufwachte, lag Ana eng an ihn geschmiegt neben ihm und wärmte seinen Rücken. Kaum bewegte er sich ein wenig, erwachte sie, löste sich sofort von ihm und stand auf. Aber der Schrecken, mit welchem sie bisher allen Berührungen ausgewichen war, war verschwunden. Als er seine Hand ausstreckte, fasste sie danach und half ihm aufzustehen. Er behielt ihre Hand für einen Augenblick fest in der seinen und spürte, dass sie sie ihm nicht entziehen wollte. Ruhig stand sie vor ihm, blickte ihn an, beinah traurig, traurig vor Hilflosigkeit, traurig vor Glück. Jean-Louis wagte es nicht, sie in seine Arme zu schließen, obwohl es das Einzige war, was er sich in diesem Augenblick wünschte. Stattdessen ließ er ihre Hand los, und Ana legte sich wie gewohnt in den Hohlbalken, auf dass er die Arbeit von Neuem in Angriff nehme.
Wenn Jean-Louis’ Berechnungen stimmten, war es Mitte des siebten Monats, als er der fertigen und bis ins letzte Detail ausgearbeiteten mechanischen Königin gegenübersaß und, nachdem die künstliche Marie Antoinette einige
Rechenaufgaben mit Bravour bestanden hatte, mit einem Bauernzug das erste offizielle Spiel gegen seinen eigenen intelligenten Schachautomaten eröffnete. Majestätisch verneigte sich die Königin und folgte seiner Einladung prompt und siegessicher. In wenigen Zügen war Jean-Louis geschlagen, wie er das von Ana gewohnt war. Dankend verneigte sich die Königin, schob das Spielbrett zur Seite, um das Zimbal zum Vorschein zu bringen, ergriff die Schlagstöcke an der Seite und klopfte damit in flüssigem Stakkato eine Sonate auf die Saiten.
Noch am selben Tag informierte Jean-Louis Montallier über den Stand seiner Arbeit, obwohl er ahnte, dass Montallier ihn überwachte und also wissen musste, dass die künstliche Königin bereit war. Überhaupt war dies das allererste Gespräch, das er seit seiner Gefangenschaft mit
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