Das taube Herz
seinem Erpresser führte. Montallier war mit der üblichen Suppenschüssel und dem geleerten Latrinenkübel in den Keller getreten und hatte sich die Nase zugehalten. Offensichtlich stank es gewaltig in den Räumen. Jean-Louis’ Geruchssinn war so abgestumpft, dass er den Gestank des ungelüfteten Kellers, seiner Kleider und seines eigenen, seit Monaten ungewaschenen Körpers nicht mehr wahrnahm. Breitbeinig stellte sich Montallier vor die künstliche Königin und ließ seinen Blick lange schweifen.
»Neun Monate und sieben Tage«, sagte er vorwurfsvoll. »Ich habe gesehen, dass du Forstschritte machst, Sovary, sonst hätte ich dich die acht angekündigten Monate nicht überschreiten lassen. Und nun führ mir die Kunststücke dieser Grande Dame vor! Ich will besiegt werden!«, posaunte er und ließ sich erwartungsvoll auf einen Stuhl niedersinken.
FÜNFTER TEIL
1
Auf diesen Tag war Blaise Montallier vorbereitet wie auf nichts sonst in seinem Leben. Die Grande Dame, wie er seinen der Königin Marie Antoinette nachempfundenen und ihr auch gewidmeten Schachautomaten taufte, sollte gar nicht erst der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Sein Ziel war der Baron von Kempelen, die Herausforderung seiner in türkische Tracht gekleideten, Schach spielenden Marionette. Keine weitere Partie sollte die Grande Dame danach noch annehmen. Und an keinem anderen Ort sollte das große, kompromittierende Spiel stattfinden als in Versailles, unter all den bezeugenden Augen von Physikern, Mathematikern, Wissenschaftlern aller Art und der Königin Marie Antoinette höchstpersönlich. Indem Montallier die Grande Dame bis zu diesem Ereignis der Öffentlichkeit vorenthielt, dachte er, würde der vernichtende und für ihn selbst so ruhmreiche Effekt noch viel größer werden. Die Einladung zu einem solchen Duell, davon war Montallier überzeugt, konnte der selbstsichere, erfolgsverwöhnte und eitle von Kempelen niemals ausschlagen.
Und so hatte Montallier, während Jean-Louis mit Ana im Keller am Automaten gebaut hatte, drei Stockwerke über ihnen von seinem Studierzimmer aus alles eingefädelt. Vom fertigen Schachautomaten erst einmal selbst
überzeugt, konnte er sein Beziehungsnetz quer durch Versailles und von dort aus direkt an den Wiener Hof in solcher Weise spielen lassen, dass den Baron von Kempelen die Einladung nach Paris zu einem außergewöhnlichen Schachspiel wie die Herausforderung an seine eigene Ehre und seinen Stand als Wiener Hofbeamten ereilte. Ein gewiefter Orgelbauer aus Versailles, so musste die Nachricht für den Österreicher lauten, hatte es also geschafft, seine Erfindung, seine einzigartige technische Errungenschaft des Schach spielenden Automaten, nachzubauen. Und nicht nur das, der französische Automat sollte allem Anschein nach auch noch Musikstücke zum Besten geben können und sogar jede beliebige mathematische Operation mit Leichtigkeit meistern. Wenn das wahr sein sollte, was der Kurier aus Paris ihm und dem Wiener Hof übermittelte, dann musste dem Baron von Kempelen schlagartig bewusst werden, dass jemand drauf und dran war, ihm seinen Ruhm und seine Ehre zu stehlen und ihn, den anerkannten und geachteten Ingenieur und Erfinder von Sprechmaschinen und intelligenten Automaten, einer Blamage auszuliefern. Ein solcher Schlag wäre nicht nur das Ende seines inzwischen international berühmt gewordenen Schachautomaten, diese Erniedrigung würde ihn auch gesellschaftlich ruinieren. Um diese Gedanken, das wusste Montallier nur allzu genau, kam von Kempelen nicht herum.
Kaum einen Monat nachdem Montallier seine Briefe unterschrieben und versiegelt, die Kuriere verschickt und im Café de la Régence seine Erfindung pompös angekündigt hatte, setzte ein schick gekleideter junger Herr vor seinem
Haus ab, übergab das Pferd dem begleitenden Pagen und klopfte an die Tür.
Im Morgenrock, ungepudert und mit offenem Haar empfing Montallier den Fremden am Frühstückstisch. Hätte er gewusst, wer vor ihm stand, hätte er sich schleunigst in Schale geworfen, seinen Säbel umgeschnallt und einen Hut aufgesetzt. Aber nun schlürfte er seinen Kaffee und kaute, um seine schlechten Zähne zu schonen, eingeweichtes Brot, während der junge Ausländer vor ihm stand und offensichtlich auf eine Einladung wartete, um etwas zu sagen. Nervös knetete der Jüngling seinen Hut.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Montallier gelangweilt und biss in eine Brioche.
Nach einigen unbeholfenen und mit schwerem Akzent
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