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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Geste alle Türchen und Schubladen wieder zu schließen. In einer schwungvollen Bewegung schob er das Zimbal zur Seite und brachte damit den Spieltisch an die Oberfläche. Neben dem Schachbrett befand sich die kleine mit Zahlenrädern ausgestattete Rechenmaschine.
    »Bitte meine Herren«, sagte er kühl, »stellen Sie der Grande Dame eine Rechenaufgabe.«
    Jean-Louis machte es ihnen vor und drehte an den Rädern. Die erste Zahlengruppe setzte er auf 5436, die zweite auf 245, und dazwischen setzte er ein Multiplikationszeichen. Augenblicklich setzte sich die Grande Dame in Bewegung, streckte den rechten Arm aus, drehte mit den Porzellanfingern an der dritten Zahlenrädergruppe, bis dort das Resultat 1 331 820 stand, und führte ihre Arme dann wieder in die Ruhestellung.
    »Bitte, rechnen Sie nach!«, forderte Montallier die Beamten neckisch auf. Der Rothaarige staunte, der Dicke schnaubte skeptisch. Schnell rechneten sie die Multiplikation auf einem kleinen Zettel schriftlich nach und waren umso verblüffter, als sie auf dasselbe Resultat kamen. Nun folgten mehrere einfache bis sehr schwere Rechnungen, welche die Grande Dame mit Leichtigkeit und beeindruckender Schnelligkeit löste.
    »Aber«, wandte der Rothaarige ein, »die Pascaline … Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie die Rechenmaschine von Pascale in so kurzer Zeit überboten haben!«

    »Möchten Sie noch eine Aufgabe stellen?«, triumphierte Montallier.
    »Nein, das reicht«, beschwichtigte der Dicke, »lassen Sie uns nun also zum Königsspiel übergehen!«
    »Wie Sie wünschen.« Majestätisch und siegessicher gab Montallier Jean-Louis das Zeichen weiterzumachen. Ein Helfer reichte den Beamten die Spielfiguren, damit sie diese auf versteckte Betrügereien absuchten. Skeptisch nickend klopfte der Rothaarige auf den Figuren herum. Der Dicke drehte sie nach allen Seiten, kratzte mit einem Fingernagel am Lack, leckte sogar an der Unterseite, ohne Erfolg. Die Figuren wurden auf dem Brett in die Grundstellung gebracht. Nun begann für Montallier der siegreiche Feldzug gegen die höfische Intelligenzija und für Jean-Louis der stille Triumph über all die dunklen, anstrengenden, kräftezehrenden Stunden der vergangenen Monate. Hier, vor diesem kleinen, aber durch und durch überwältigten Publikum, war er zusammen mit Ana ans Ziel gelangt.
    Jean-Louis rührte sich nicht, als der Rothaarige sich von seinem Stuhl erhob, um zögernd einen ersten Zug zu machen. Er griff nach dem weißen Bauern vor der Dame und fuhr ein statt der erlaubten zwei Feldern vor, genau so, wie Ana es in ihrem Kerker bei ihrem ersten Zug zur Kontaktaufnahme mit Jean-Louis getan hatte. Jean-Louis lächelte still in sich hinein. Ana musste die unfreiwillige Anspielung des Beamten bemerkt haben, denn sie antwortete ihm mit einem im ersten Augenblick absurd scheinenden Bauernzug. Nur Jean-Louis begriff die Bedeutung dieses ersten offiziellen Schachzugs der Grande Dame, ein Zug, der ihm, dem heimlichen Geliebten der wirklichen
Grande Dame, allein gewidmet war. Aber statt eines sieglosen Liebesspiels spielte Ana danach einen unerbittlichen Schlagabtausch, der Weiß in wenigen Zügen ins Matt und den rothaarigen Beamten in Verlegenheit brachte. Höflich verneigte sich die Grande Dame und kehrte in die Ruhestellung zurück. Der zweite Beamte spielte schlechter als der erste und gab zwei Züge vor Matt auf. Jean-Louis stand wie ein Zinnsoldat neben seinem Werk und betete darum, dass dem aufgeblasenen Montallier kein Schnitzer unterlaufen möge. Die Beamten verlangten noch fünf zusätzliche Spiele, die sie alle in wenigen Zügen verloren, wiederholten ein paar Rechenoperationen am Zahlenautomaten, verlangten weitere Einblicke in die innere Mechanik und ließen sich zum Schluss bei offenen Türchen ein kleines Menuett vorspielen. Das alles meisterte die Grande Dame mit Bravour. Montallier schäumte vor Stolz. Die Gehilfen huschten hin und her, servierten Tee, Kaffee und Gebäck vom Feinsten, tuschelten und rückten Stühle und Tischchen zurück, machten sich überflüssig.
    Es war später Nachmittag, als die Beamten endlich abzogen. Montallier schrie und tobte, verfluchte jeden Gehilfen einzeln, bewarf die einen mit Stroh, bedrohte die anderen mit seinem Säbel. Nichts war recht, alles war falsch, alles musste für Versailles anders werden. Nur an Jean-Louis adressierte er kein einziges Wort und würdigte ihn keines Blicks.
    »Und nun kommt das Biest raus!«, schrie er plötzlich.
    »Von welchem

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