Das taube Herz
war Jean-Louis vorbereitet gewesen, aber nicht darauf, dass Montallier die Grande Dame selbst bedienen wollte.
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Der Spiegelsaal war so voll, dass die Leute bis zur kleinen Bühne, auf welche die beiden Schachautomaten gehievt worden waren, eng aneinandersaßen, sich gegenseitig stupsten und zupften und rügten. Die Pagen gaben Anweisungen, damit ein schmaler Gang vom Hauptportal bis zur Bühne frei blieb. Tee und Kekse wurden auf Silbertabletts serviert, und im Hintergrund spielte Musik auf, um die aufgeregte Stimmung etwas zu dämpfen.
Montallier hatte schließlich auf Jean-Louis’ Drängen hin nachgegeben und ihm erlaubt, der Vorführung hinter der Bühne aus nächster Nähe beizuwohnen. Von seinem Assistentenposten aus beobachtete Jean-Louis den Aufmarsch des Pariser Adels aus privilegierter Position. Wer etwas auf sich hielt, hatte sich einen Platz für diesen einmaligen Zweikampf gesichert. Wer sich mündig und seines Standes bewusst fühlte, war zugegen, um dem Spiel beizuwohnen, das nicht nur zwei automatisch animierte Puppen gegeneinander, sondern den Pariser gegen den Wiener Hof antreten ließ. Frankreich gegen Österreich stand auf dem Spielplan, die Ehre der Wissenschaften, der Akademie und des geistigen Ranges zweier Nationen.
Als nach langem Warten und Spekulieren Ihre Majestät Marie Antoinette den Saal betrat, verstummte das versammelte Publikum ehrerbietig und erhob sich zur begrüssenden
Verneigung. Die Pagen und Diener und Aufpasser tanzten schützend um die Königin, fächelten parfümierte Luft, wischten den Boden vor den königlichen Füßen, ermahnten erregte Damen, sich aus dem Durchgang zu entfernen, wiesen Ihrer Majestät den reservierten Platz in der ersten Reihe.
Das Publikum durfte sich setzen, und das Spiel konnte beginnen.
Der Präsentator, ein mit dem Willen zur Neutralität gewählter unkundiger Schauspieler mit italienischem Akzent, in rotem Rock und mit samtener Schleife, begrüßte ausschweifend die Majestät, das Publikum und die beiden Erfinder sowie ihre Automaten, die Grande Dame und den Schachtürken, als handelte es sich bei den kunstvoll gebauten Apparaten um veritable Persönlichkeiten. Als der Schachtürke auf diese Begrüßung mit einem leichten Kopfnicken reagierte, fuhr eine Welle des Raunens, Flüsterns und Aufbegehrens durch das Publikum, so dass die mit Säbel und Helm ausgestatteten Aufpasser im Saal von ihren Posten ausrückten und zur Ruhe mahnten.
Nun war es an Wolfgang von Kempelen, denn es gebührte sich, dem ausländischen Gast den Vortritt zu lassen, seinen unvergleichlichen Androiden vorzuführen. Zum ersten Mal verfolgte Jean-Louis nun mit eigenen Augen, wie Kempelen seinen weitherum berühmten und beim Publikum noch vom letzten Besuch in Paris bekannten Automaten mit vielfach eingeübten Gesten und Worten vorführte, Türchen und Schubladen öffnete, den Kasten mehrmals drehte und seinen hölzernen Türken den Rösselsprung vorführen ließ, wie er es im Café de la Régence vor dem Spiel gegen Philidor getan hatte. Dies alles beeindruckte
das erlauchte Publikum abermals, jedoch nicht Kempelens Gegner Montallier, der, auch das konnte Jean-Louis von seinem Platz aus beobachten, ungeduldig seinen Part abwartete, um seine Grande Dame herumschritt, hin und wieder überhebliche, verachtende Blicke ins Publikum und zum intelligent agierenden Türken hinüberwarf, sich die Hände und die Backen rieb und in sein sauberes Taschentuch schnäuzte. Jean-Louis wurde warm und kalt beim Anblick seines sich als Baumeister ausgebenden Erpressers, auf dessen Stirn winzige Schweißperlen glitzerten, größer wurden und die Schläfen hinunterkullerten. Während Kempelen die üblichen Sprüche klopfte und seinen Gehilfen Anthon anwies, diesen und jenen Hebel zu betätigen, Einblick in die Mechanik zu gewähren und die große Holzpuppe spielbereit zu machen, stieg die Nervosität, das spürte Jean-Louis hautnah, in dem sonst so selbstsicheren, unerschütterlichen Montallier hoch wie eine schnell wachsende Klette. Nur die Grande Dame stand während der ganzen Kempelen’schen Vorführung reglos da, wie es sich für einen Automaten gehörte. Ana lag ruhig in ihrem Hohlbalken und wartete auf Anweisungen. Jean-Louis suchte nach einer Möglichkeit, mit ihr in Kontakt zu treten, aber er war zu weit von der Bühne entfernt. Um die Grande Dame berühren zu können, hätte er sich vor dem versammelten Publikum bemerkbar machen müssen, und Montallier hätte ihn dafür mit dem
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