Das taube Herz
Biest reden Sie?«, fragte Jean-Louis.
»Ana! Hol sie da raus, bevor dieses Monster in dem Kasten noch erstickt oder verhungert!«
»Ich verbiete Ihnen, so zu reden, Monsieur Montallier«,
sagte Jean-Louis und baute sich vor ihm auf, »es gibt kein Monster, es gibt kein Biest, und es gibt auch keine Ana. Merken Sie sich das. Es gibt nur den Automaten, nichts anderes!« Montallier schaute ihn irritiert an.
»Glauben Sie denn tatsächlich, dass wir es mit Beamten des königlichen Hofs zu tun gehabt haben?«
»Mit wem denn sonst?«, schnaubte Montallier und kratzte mit seinem Säbel im staubigen Boden.
»Es ist offensichtlich, Monsieur, dass Sie Ihren Widersacher von Kempelen völlig unterschätzen!«
Montallier sah ihn an wie ein Hund, dem ein Bastard eben gerade einen leckeren Knochen weggeschnappt hat.
5
Zwei Tage später, am Morgen des 24. Juni 1784, noch bevor der Tau sich auf die Rosenblätter gelegt hatte, fuhren in Versailles mehrere schwer beladene Karren durch den knirschenden Kies. Die Fuhrleute pfiffen und zerrten an den Zügeln, sprangen von ihren Böcken herunter, fassten die Pferde an den Halftern, brachten sie zum Stehen. Knechte, Hofdiener und Handlanger schwirrten um die tief liegenden Wagen, lösten Riemen und Schnüre, zogen die Wachsplanen von den Kisten herunter und begannen mit höchster Vorsicht abzuladen. Zwei Herren in langen Röcken würdigten sich während dieses ganzen Spektakels gegenseitig keines Blicks. Der französische Hoforgelbauer Blaise Montallier und der österreichische Erfinder Wolfgang von Kempelen folgten je nur ihren eigenen Leuten, gaben da und dort kurze, trockene Befehle, mahnten zur Vorsicht, stapften wie Kampfhähne durch den Kies.
Blaise Montallier atmete lang ersehnte Erfolgsluft. Alles lief nach Plan. Jean-Louis Sovarys Bedenken hatten sich als unbegründete, kleingeistige Befürchtungen eines Angsthasen herausgestellt und in Luft aufgelöst. Die ganze Nacht und den ganzen darauffolgenden Tag, während sie in der Scheune die Grande Dame für den Transport nach Versailles bereit machten, hatte er auf eine Attacke, einen Diebstahl, einen Sabotageangriff, auf irgendetwas
Ungewöhnliches gewartet. Aber nichts passierte. Kein Eindringling, kein Spion, kein Brandstifter, nicht einmal neugierige Gaffer galt es abzuwimmeln. Weder die Patrouillen rund um die Scheune noch die Wachen am Tor und im Gebälk konnten etwas Auffälliges melden. Von Kempelen, arrogant und erfolgsverwöhnt, wie er war, naiv und eingebildet, so posaunte Montallier außer sich vor Freude, lief geradewegs in die Falle.
Das Spiel war auf den späten Nachmittag angesetzt, so dass, um die beiden Automaten zusammenzubauen und spielfertig zu machen, nur wenig Zeit blieb. Das erlauchte Publikum war geladen und bereitete sich auf die Aufführung vor wie auf einen königlichen Ball. In den wenigen Tagen hatte sich die Nachricht des Duells zwischen den beiden Schachautomaten vom Café de la Régence aus in der ganzen Stadt verbreitet. Die königliche Hoheit hatte für den Empfang der beiden Automaten zuerst das kleine, gemütliche Kuriosenkabinett vorgesehen, schließlich handelte es sich um die Präsentation von zwei aufsehenerregenden Automatenpuppen und nicht um einen Staatsbesuch. Der Ansturm zu diesem Unterhaltungsspiel war jedoch so groß, dass die Vorführung erst in den Opernsaal und schließlich in den großen, normalerweise für Staatsbesuche reservierten Spiegelsaal verlegt werden musste. Dennoch waren die limitierten Eintrittskarten längst vergeben und erlangten auf dem Schwarzmarkt astronomische Preise. Im Café de la Régence wurden Wetten darüber abgeschlossen, ob Montallier, der Angeber und Spieler dritten Ranges, es geschafft haben sollte, den österreichischen Schachtürken mechanisch und technisch zu überbieten. Hatte er das Geheimnis der Funktionsweise
der intelligenten Maschine tatsächlich geknackt? War es ihm gelungen, Kempelens Erfindung zu kopieren oder gar zu verbessern? War Montallier ein technisches, ein wissenschaftliches Genie? War es möglich, dass einer der Ihren, nicht intelligenter, nicht gelehrter, nicht geschickter als andere Kollegen aus dem Régence, eine wissenschaftliche Entdeckung gemacht hatte? Und wie sollte es überhaupt möglich sein, dass ein Automat gegen einen anderen Automaten Schach spielte? War das nicht ein Ding der Unmöglichkeit? Wie sollten die von Natur aus toten Materialien, in einer bestimmten Weise komponiert und zusammengebaut, sich plötzlich
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