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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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verhalten wie zwei Menschen an einem Spielbrett? War denn alles, was den Menschen ausmacht, durch Maschinen darstellbar? War es möglich, einer Maschine menschliche Verhaltensformen abzugewinnen? Und wenn dem so sein sollte, was bedeutete das für den Menschen selbst? Ist er denn tatsächlich nichts anderes als eine Maschine, gebaut aus Knochen, Nerven, Muskeln, Adern, Blut und Haut? Reicht es, diesen Mechanismus bis in die feinsten Fasern nachzubilden, um einen Menschen zu kreieren? War der jahrtausendealte Traum Wirklichkeit geworden? War Montallier drauf und dran, die Schöpfung und damit Gott herauszufordern? Stürzte dieser liederliche Möchtegernprometheus sie alle in die Verdammnis? Die Wetteinsätze stiegen in obszöne Höhen und mit ihnen die Spekulationen und Gerüchte, Behauptungen und Befürchtungen.
     
    Die Grande Dame stand fertig zusammengebaut, geputzt, poliert und frisch frisiert in einem Nebenraum des großen Spiegelsaals. Durch das Fenster konnte Jean-Louis sehen,
wie unten im Park die ersten Kutschen vorfuhren, denen Hofdamen in langen Roben und Herren in prunkvollen Röcken entstiegen. Die kompliziert hochgesteckten Frisuren der adligen Damen widerstanden dem leichten Luftzug, der aufgekommen war. Die sich wichtig nehmenden Männer fuchtelten mit ihren schwarzen Stöcken in der Luft herum, als hielten sie Säbel in den Händen. Und während die Kutschen in einen Unterstand hinübergefahren wurden und die Herrschaften das Schloss betraten, traf Montallier eine letzte Entscheidung. Mit selbstgefälliger Stimme versammelte er seine Arbeiter um sich und bestellte Jean-Louis in die Mitte des Kreises.
    »Sovary!«, begann Montallier seine Schlussrede, »ich werde die Grande Dame alleine vorführen. Ich habe dich bei deinem letzten Testlauf beobachtet. Und du scheinst mir vollkommen überflüssig zu sein für diesen Auftritt. Und ihr«, wandte er sich an die Gehilfen, »macht euch zu Küchenschaben!«
    Die gesamte Gefolgschaft nickte untertänig und verzog sich durch die Tür und die Flure hinaus zu den Fuhrleuten.
    »Das Einzige, was du mir noch zeigen musst, Sovary«, schnaubte Montallier, als sie allein waren, »ist, wie ich den Hohlbalken öffne, um das Biest dem Publikum zu präsentieren.«
    Montallier riss den Kasten der Grande Dame auf und legte seine großen, schweren Hände auf den aus hellem Lindenholz gebauten Hohlbalken.
    »Wo ist die Öffnung?«
    »Monsieur Montallier, Sie können den Balken jetzt nicht öffnen. Das stört die Konzentration von Ana. Es kann die Vorführung gefährden, sie gar verhindern!«

    »Zeig mir, wie sich dieser Balken öffnen lässt! Ich will sie sehen, sofort! Das ist ein Befehl!« Plötzlich brach die ganze innere Anspannung, die geheime Angst des so siegessicheren Blaise Montallier aus ihm heraus und erfasste seinen ganzen Körper. Bebend vor Aufregung begann er, am Balken herumzuzerren. Das Holz war so glatt und einheitlich verarbeitet, dass er seine dicken Finger nirgends ansetzen konnte. Verzweifelt begann er, auf den Balken einzuhämmern. Da fasste Jean-Louis ihn am Arm und zog den vor Erregung zitternden Meister zur Seite. Zielsicher legte er seinen Zeigefinger auf die vordere Wand des Hohlbalkens und schob einen kleinen Holzstift nach rechts. Damit entstand eine Öffnung, durch die er seinen Zeigefinger stecken konnte. In einer einzigen Handbewegung sprang der Kasten auf und legte die ganz in Schwarz gekleidete Ana frei. Wie tot lag sie in ihrem passgenauen Bett, die Arme eng an den Körper geschmiegt, das Gesicht kreideweiß, die Augen geschlossen.
    »Schläft sie? Ist sie krank? Sie ist tot!«, schrie Montallier entsetzt von ihrem Anblick.
    Sanft schloss Jean-Louis den Deckel des Hohlbalkens wieder. »Sehen Sie, Sie kennen die Grande Dame noch zu wenig, Sie wissen nicht, wie Sie mit Ana umgehen sollen«, sagte Jean-Louis besänftigend, »deshalb lassen Sie mich den Automaten für das Spiel bedienen.«
    »Kommt nicht infrage! Dass mir das Biest nur ja nicht stirbt da drin!«
    »Das kann ich Ihnen bei meinem eigenen Leben versichern! Alles, was Sie brauchen, ist ein bisschen Feingefühl. Überraschen Sie Ana nicht. Lassen Sie ihr Zeit, sich an die Situationen zu gewöhnen!«

    »Hör auf mit deinem Geschwätz! Die Grande Dame muss funktionieren, Anas Herz muss schlagen, das ist alles!«
    »Dann sind wir bereit!«, sagte Jean-Louis mit gespielter Bestimmtheit und bat Montallier, ihm zu helfen, die Grande Dame in den Spielgelsaal hinauszurollen. Auf alles

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