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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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lag nicht mehr in seiner Hand. Montallier, der sich als Erfinder des Automaten aufzuführen gedachte, hielt nun die Fäden dieser gesellschaftlichen Marionette in der Hand, und offensichtlich hatte er vor, sie zu spielen wie ein Meister. Ununterbrochen hallten seine befehlenden oder scheltenden Rufe durch die Straße, wandten sich an den einen und den anderen Kutscher. Die Diener sprangen atemlos um die Wagen, kontrollierten Schnüre und Binden, schoben und bremsten, versuchten da und dort die schwere Last abzufedern, aber der Meister gab sich nie zufrieden. Wie ein Marktschreier zog er von allen Seiten Neugierige an. Schon nach kurzer Zeit verfolgte eine ganze Schar Schaulustiger den außergewöhnlichen Umzug, begleitete ihn mit Geplauder und Spekulationen, und Montallier nutzte die Gelegenheit, die Gerüchte anzuheizen und auf das bevorstehende Duell in Versailles hinzuweisen. Schließlich zog er sogar die Tür der
Kutsche auf, um seinen Konstrukteur, Jean-Louis Sovary, den gierigen Gaffern zu präsentieren.
    »Dieser junge Uhrmacher aus dem Neuenburger Jura, meine Damen und Herrn«, schrie Montallier begeistert und riss Jean-Louis die Augenbinde vom Kopf, »schauen Sie ihn an! Dieser kleine, ungelernte Uhrmacher hat meine Erfindung zur Vollendung gebracht. Seine Konstruktion, meine Herrschaften, Sie werden es erleben, wird den berühmten österreichischen Schachautomaten schlagen!«
    Das plötzliche Licht blendete Jean-Louis so, dass er nichts sehen konnte. Unbeholfen winkte er den vor ihm tanzenden Schatten und zog sich die Augenbinde wieder über. Die Kutschentür schlug zu, und der Meister gab Befehl zur Weiterfahrt.
     
    Als Montallier Jean-Louis die Augenbinde zum zweiten Mal abnahm, befanden sie sich in einer Scheune. Stroh lag auf dem Boden, zwei alte Wagen mit kaputten Rädern verstellten einen Teil des sonst leer geräumten Raums. Montallier befahl, die Kisten ab- und auszuladen. Wieder setzte ein emsiges Schwirren, Tuscheln und Zanken der Angestellten ein. Unter ärgsten Befürchtungen wurden die eben gebauten Verpackungskisten wieder zerstört, um die einzelnen Glieder der Grande Dame unversehrt an den Tag zu bringen.
    »Diesen Nachmittag und eine Nacht«, sagte Montallier fordernd, »hast du Zeit, um die Grande Dame für ein erstes Spiel vorzubereiten. Es werden Beamte des Hofes von Versailles sein, und sie werden uns auf alle möglichen Tricks und Täuschungsmanöver hin prüfen. Für sie ist es eine Probe, Sovary, aber nicht für uns, ist das klar! Nicht für
dich und nicht für das Biest. Wo ist es überhaupt? Braucht diese Kreatur denn nichts zu essen?«
    Jean-Louis ließ sich auf keine Diskussion ein und machte sich an die Arbeit. Die Hunde strichen durch die Scheune, und die vier Gehilfen standen Wache. Ana war so still in ihrem Kasten, dass nicht einmal die Hunde ihre Anwesenheit bemerkten. Mehrere Tage konnte sie inzwischen in dem Automaten liegen, ohne sich zu bewegen. Durch die jahrelange Abschottung hatte sie es geschafft, ihren Stoffwechsel immer wieder auf ein Minimum zu reduzieren. Mit einer kleinen Wasserflasche versorgt, konnte sie mehrere Tage im Hohlbalken ausharren, ohne zu essen, das wusste Jean-Louis und zog es vor, sie in der geschlossenen Holzkiste in Ruhe zu lassen, statt sie den Strapazen der neuen Umgebung und den neugierigen, aufdringlichen Blicken der Gehilfen auszusetzen. Panik und Angst konnte für das bevorstehende Spiel fatale Folgen haben. Also ließ er sich Zeit und baute den Automaten behutsam und auf Umwegen zusammen, damit auch niemand das Prozedere mitverfolgen und womöglich notieren konnte. Über viele Stunden hinweg tat er so, als müsste er sich an den genauen Bauplan erst wieder erinnern, und passte die letzten Teile erst ein, als er sichergehen konnte, dass Montallier eingeschlafen war. Die Wachen lösten sich ab und schliefen ebenfalls eine nach der anderen neben den Hunden ein. Nur einmal, kurz vor Sonnenaufgang, klopfte Jean-Louis leise an den Hohlbalken. Ein kaum wahrnehmbares Kratzen bestätigte ihm, dass Ana wohlauf war und sich auf den ersten Auftritt vorbereitete. Das Spiel konnte beginnen.

4
    Bereits am frühen Morgen betraten zwei gut gekleidete Herren, ein dünner Rothaariger und ein dicker Glatzköpfiger, die Scheune und fragten nach Monsieur Blaise Montallier, seines Zeichens Orgelbauer und Erfinder eines angeblich dem österreichischen Schachtürken ebenbürtigen Schachautomaten.
    »Nicht nur ebenbürtig, meine Herren, nein, überlegen!«,

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