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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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brauste Montallier sofort auf und bat die Herren einzutreten. Der versprochene Automat befand sich, von weißen Laken verhüllt, in der Mitte der Scheune. Je zwei Wachen standen an den Seiten, Jean-Louis davor.
    Den Herren Beamten aus Versailles wurden Stühle geholt, und unter Montalliers Führung begann nun vor dem zweiköpfigen Publikum die offizielle Uraufführung der Grande Dame, des ersten rechnenden, musizierenden und Schach spielenden Automaten in der Geschichte der Menschheit. Montalliers rhetorische Künste führten von Pontius zu Pilatus, vom Himmel zur Hölle und vom Abakus zur Pascal’schen Rechenmaschine. Das Unmögliche wurde möglich, das Undenkbare denkbar, die frevelnde, Gott lästernde Konstruktion einer menschenähnlichen, denkenden und handelnden Maschine zur fortschrittlichsten Errungenschaft der Wissenschaften. Montallier scheute kein Tabu, wagte sich in Neuland vor, experimentierte
mit dem gefährlichen Gedanken der Schöpferkraft des Menschen.
    Die Herren Beamten rückten nervös auf ihren Stühlen hin und her, zogen Grimassen, runzelten die Stirn, lächelten hin und wieder verlegen und hielten sich nachdenklich den Zeigefinger vor den geschlossenen Mund. Sie sagten nichts und ließen sich von Montalliers Vortrag willig auf die Folter spannen.
    Jean-Louis wurde warm und kalt beim Gedanken, dass Montallier dem Hof zuerst die Konstruktion einer hochintelligenten Maschine vorgaukeln wollte, um danach, einmal bis zur Königin vorgedrungen, mittels der Enthüllung der tatsächlichen Funktionsweise der Grande Dame zu beweisen, dass menschliche Intelligenz mechanisch niemals nachgebaut oder gar erzeugt werden könne. Räder denken nicht, war Montalliers Paradigma, das er über den Umweg einer spektakulären Aufführung ein und für alle Mal als Wahrheit bewiesen, definiert und in die Welt hinausposaunt haben wollte. Und so fuhr Montallier mit seiner Wortkaskade ungestüm weiter, baute Gedankenkonstrukte, untermauerte sie mit philosophischen Felsbrocken, zog Synthesen und Konsequenzen. Alles kulminierte in der effektvollen Enthüllung der Grande Dame, dem ultimativen Beweisstück aller seiner gewagten wissenschaftlichen Ausschweifungen. Genüßlich ließ er einen Wortschwall über seinen außerordentlichen Automaten rieseln und verneigte sich ehrfurchtsvoll vor seiner eigenen Erfindung.
    Stolz und erhaben erschien die Nachbildung Marie Antoinettes unter den weißen Laken. Mit glänzendem Porzellangesicht saß sie aufrecht vor dem Zimbal, das Haar in Locken bis zum Rücken, das lange Kleid fest sitzend,
die Arme leicht angewinkelt, bereit, eine erste Melodie zum Besten zu geben. Sich kaum aus seiner Verneigung erhebend, gab Montallier das Zeichen zum Start.
    Jean-Louis’ Aufgabe war es nun, alle Fähigkeiten der Grande Dame möglichst effektvoll vorzustellen. Wie ein Zirkusdirektor dem Dompteur, überließ Montallier Jean-Louis diesen Part mit süffisantem Blick. Jean-Louis begab sich auf die linke Seite des Holzsockels, steckte einen großen Hebel in eine Deichsel und drehte daran. Das Knattern des Federzugs machte aus der Grande Dame augenblicklich eine große Pendeluhr, deren Unruh über die Spannung einer Stahlfeder angetrieben wurde. Tatsächlich waren mehrere Klicks und Klacks, ein längeres Quietschen und ein abschließender Schlag zu hören, wie es aus einer großen Standuhr hätte klingen können. Statt die Zeit anzuzeigen, führte der in Gang gesetzte Mechanismus jedoch dazu, dass sich die etwas steife Marie Antoinette leicht zur Seite umdrehte, mit den Händen nach den Schlagstöcken griff und auf dem Zimbal eine Melodie zu spielen begann. »Von Gluck!« rief Montallier den gespannt horchenden Herren zu.
    Während dieser ersten Vorstellung blieb Jean-Louis ruhig neben dem Automaten stehen. Die Beamten nickten sich gegenseitig anerkennend zu und vergrößerten mit den Händen die Ohrmuscheln, um auch ja keine Note zu verpassen. Als die Grande Dame zu Ende gespielt und die Schlagstöcke wieder zur Seite gelegt hatte, bat Jean-Louis die Herren, sich zu erheben und vom Innern des Automaten einen Augenschein zu nehmen. Wie Montallier es ihm von seinem Widersacher von Kempelen berichtet hatte, öffnete Jean-Louis nun Türchen und Schubladen,
gab Einblick in die innersten Details des Holzsockels, ermöglichte es den Herren, durch die Mechanik hindurchzusehen, erlaubte es ihnen sogar, mit einer Hand dort und da hineinzugreifen, einzelne Räder und Seilwinden abzutasten, um dann mit feierlicher

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