Das Testament der Götter
zunächst den Anforderungen des Gerichts der Heilkunde von Sais genügen. Ein Priester hatte ihr Dörrfleisch, Datteln, Wasser sowie Papyri zur Heilkunst gebracht, die sie wieder und wieder durchgelesen hatte; manche Begriffe begannen sich zu verwirren. Mal besorgt, mal vertrauensvoll, hatte sie sich in die Versenkung geflüchtet, indem sie ihren Blick auf dem weiten, mit Karobenbäumen {25} bepflanzten Garten rund um die Schule ruhen ließ.
Während die Sonne niedersank, kam der Hüter der Myrrhe, ein besonders in Räucherungen bewanderter Arzneikundiger, um sie zu holen. Er führte sie in die Wirkstätte und stellte sie mehreren Berufsgenossen gegenüber. Ein jeder forderte Neferet auf, eine Verordnung auszuführen, Heilmittel zuzubereiten, die Giftigkeit einer Arznei zu bewerten, zusammengesetzte Wirkstoffe zu erkennen, die Lese der Pflanzen, des Gummiharzes und des Honigs im einzelnen darzulegen. Wiederholt stockte sie unsicher und mußte in den tiefsten Winkeln ihres Gedächtnisses schöpfen. Zum Ende einer fünfstündigen Befragung gaben vier der fünf Arzneikundigen ein günstiges Urteil ab. Jener mit gegenteiliger Anschauung erläuterte seinen Standpunkt: Neferet habe sich bezüglich zweier Darreichungsmengen geirrt. Ihrer Müdigkeit ungeachtet, forderte er, ihre Kenntnisse weiter zu erkunden. Falls sie sich weigerte, müßte sie Sais verlassen. Neferet hielt stand. Sie ließ sich von ihrer gewohnten Sanftmut nicht abbringen, während sie die Angriffe ihres Gegners erduldete. Er war es schließlich, der zuerst aufgab.
Ohne die geringste Belobigung erhalten zu haben, zog sie sich in ihre Kammer zurück und schlief, kaum auf ihrer Matte ausgestreckt, sogleich ein.
Der Arzneikundige, der sie so hart auf die Probe gestellt hatte, weckte sie im Morgengrauen. »Ihr habt das Recht weiterzumachen; besteht Ihr darauf?«
»Ich stelle mich Euch.«
»Ihr habt eine halbe Stunde für Eure Waschungen und Euer Morgenmahl. Ich möchte Euch vorwarnen: Die folgende Prüfung ist gefahrvoll.«
»Ich habe keine Angst.«
»Überlegt es Euch.«
Auf der Schwelle zur Wirkstätte wiederholte der Arzneikundige seine Warnung. »Nehmt diese Mahnungen nicht auf die leichte Schulter.«
»Ich werde nicht zurückweichen.«
»Wie es Euch beliebt; nehmt dies hier.« Er händigte ihr einen gegabelten Stab aus. »Geht in die Wirkstätte und bereitet ein Heilmittel mit den Stoffen zu, die Ihr finden werdet.« Der Heilkundige schloß die Tür hinter Neferet. Auf einem niedrigen Tisch standen bauchige Flaschen, Tiegel und Krüge; im entferntesten Winkel, unter dem Fenster, ein verschlossener Korb. Sie trat näher.
Die Zwischenräume des Geflechts am Deckel waren weit genug, daß sie den Inhalt erblickte. Entsetzt schreckte sie zurück. Eine Hornotter.
Ihr Biß war tödlich, doch ihr Gift lieferte den Grundbestandteil äußerst wirksamer Mittel gegen starke Blutungen, Nervenleiden und Herzerkrankungen. So begriff sie, was der Arzneikundige erwartete. Nachdem sie ihre Atmung wieder zur Ruhe gebracht hatte, hob sie den Deckel mit nunmehr sicherer Hand an. Die vorsichtige Otter kam nicht sogleich aus ihrer Höhle; gesammelt und reglos schaute Neferet ihr zu, wie sie den Korbrand überwand und sich auf den Boden schlängelte. Das ein Meter lange Reptil bewegte sich sehr schnell; die beiden Dornen schienen bedrohlich aus seiner Stirn zu schnellen. Neferet umklammerte den Stock mit ganzer Kraft, rückte der Schlange von links auf den Leib und versuchte, ihren Kopf in die Gabel zu klemmen. Einen Augenblick schloß sie die Augen; falls es ihr mißlänge, würde die Otter den Stock hinaufklettern und ihr den tödlichen Biß versetzen. Der Körper schlug wild hin und her. Sie hatte es geschafft.
Neferet kniete nieder und packte die Schlange hinter dem Kopf. Sie würde sie ihr kostbares Gift ausspeien lassen.
Auf dem Schiff, das sie nach Theben brachte, hatte Neferet kaum Zeit, sich auszuruhen. Mehrere Heilkundige plagten sie mit Fragen hinsichtlich ihrer jeweiligen Fachgebiete, die sie selbst während ihres Studiums ausgeübt hatte.
Neferet paßte sich jeder neuen Lage an; unter noch so unvorhergesehenen Umständen wankte sie nicht, nahm die Erschütterungen der Welt, die Veränderungen der Wesen an und bekümmerte sich wenig um sich selbst, um die Kräfte und die Mysterien besser wahrzunehmen. Sie war dem Glück gewiß nicht abgeneigt, doch Widrigkeiten verdrossen sie nicht; durch diese hindurch strebte die junge Frau nach einer künftigen,
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