Das Testament der Götter
unter dem Unglück verborgenen Freude. Zu keinem Zeitpunkt empfand sie Verbitterung gegen jene, die sie quälten; bildeten sie sie nicht, bewiesen sie ihr nicht die Kraft ihrer Berufung? Theben, ihre Geburtsstadt, wiederzusehen, war eine wahre Lust; der Himmel schien ihr blauer als in Memphis, die Luft lieblicher. Eines Tages würde sie zurückkehren, um hier, nahe ihren Eltern, zu leben und erneut über die Flure ihrer Kindheit zu wandeln. Sie dachte an ihre Äffin, die sie Branir anvertraut hatte, und hoffte dabei, sie würde vor dem alten Meister Achtung haben und sich weniger lästig als üblich zeigen. Zwei Priester mit geschorenem Schädel öffneten das Tor der Tempelumfriedung; hinter den hohen Mauern waren mehrere Heiligtümer errichtet worden. Dort, in der Stätte der Göttin Mut, deren hieroglyphisches Namenszeichen sowohl »Mutter« als auch »Tod« bedeuten konnte, erhielten die Heilkundigen ihre Einsetzung.
Der Obere empfing die junge Frau. »Ich habe die Berichte der Schule von Sais übermittelt bekommen; wenn Ihr es wünscht, könnt Ihr fortfahren.«
»Das wünsche ich.«
»Die endgültige Entscheidung obliegt den Sterblichen nicht. Sammelt Euch, denn Ihr werdet einem Richter gegenübertreten, der nicht von dieser Welt ist.« Der Obere legte um Neferets Hals eine Schnur mit dreizehn Knoten und forderte sie auf, sich niederzuknien.
»Das ›Geheimnis des Heilkundigen {26} ‹«, offenbarte er, »ist die Kenntnis des Herzens; von ihm gehen die sichtbaren und unsichtbaren Gefäße aus, die zu jedem Organ und zu jedem Glied streben. Aus diesem Grund spricht das Herz im ganzen Körper; wenn Ihr einen Kranken abhorcht, indem Ihr ihm die Hand auf seinen Kopf, seinen Nacken, seine Arme, seine Beine oder auf irgendeinen anderen Teil seines Leibes legt, forscht zuerst nach der Stimme des Herzens und seiner Schläge. Versichert Euch, daß es fest auf seinem Grunde ruht, daß es sich nicht von seinem Platz entfernt, sich nicht senkt, noch schwächer wird und daß es normal tanzt. Wißt, daß Kanäle den Körper durcheilen und die flüchtigen Lebenskräfte sowie Luft, Blut, Wasser, Tränen, Samen oder kotige Stoffe führen; wacht über die Reinheit der Gefäße und der Körpersäfte. Wenn die Krankheit eintritt, bringt sie eine Störung der Lebenskraft zum Ausdruck; über die Wirkungen hinaus müßt Ihr die Ursache erforschen. Seid aufrichtig mit dem Leidenden, und teilt ihm eine der drei möglichen Befunde mit: ein Leiden, das ich kenne und das ich behandeln werde; ein Leiden, gegen das ich ankämpfen werde; ein Leiden, gegen das ich nichts ausrichten kann. Geht nun Eurem Geschick entgegen.«
Das Heiligtum lag in tiefer Stille. Auf ihren Fersen sitzend, die Hände auf den Knien und die Augen geschlossen, wartete Neferet. Die Zeit hatte keine Bedeutung mehr. In sich versenkt, bezähmte sie ihre Bangigkeit. Wie sollte sie ihr Vertrauen auch nicht dem Kollegium der Priester-Ärzte schenken, die seit den Ursprüngen Ägyptens die Berufung der Heilkundigen mit ihrer Weihe krönten? Zwei Priester richteten sie auf; vor ihr öffnete sich eine zederne Pforte, die zu einer Kapelle führte. Die beiden Männer begleiteten sie nicht. Sich selbst fern und jenseits aller Furcht und Hoffnung betrat Neferet den länglichen, in Dunkelheit getauchten Raum. Die schwere Tür schloß sich hinter ihr. Sogleich spürte Neferet eine Gegenwart; irgend jemand hockte in der Finsternis am Boden und beobachtete sie. Die Arme am Körper entlang ausgestreckt und mit beklommenem Atem bezwang die junge Frau die heillose Angst. Allein war sie bis hierher gelangt; allein würde sie sich verteidigen. Plötzlich fiel ein Lichtstrahl vom Dach des Tempels hernieder und erleuchtete eine an der hinteren Wand anlehnende Statue aus Diorit. Sie stellte die Göttin Sechmet aufrecht schreitend dar, die furchterregende Löwin, die an jedem Jahresende nach der Vernichtung des Menschengeschlechts trachtete, indem sie Horden von Miasmen, Krankheiten und schädlichen Keimen aussandte. Sie durchstreifte die Welt, um Unheil und Tod zu verbreiten. Einzig die Heilkundigen vermochten dieser entsetzlichen Gottheit entgegenzuwirken, die überdies auch ihre Schutzgöttin war; sie allein lehrte jene die Heilkunst und das Geheimnis der Heilmittel.
Kein Sterblicher, hatte man Neferet oftmals gesagt, schaute der Göttin ins Angesicht, ohne zur Strafe sein Leben zu verlieren.
Sie hätte die Augen senken, ihren Blick von dieser außergewöhnlichen Statue, dem Antlitz
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