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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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…«
    »Kursarbeit?« Er öffnete den Reißverschluss und drehte den Rucksack um. Der Ringhefter für Geschichte fiel heraus und sprang auf, die Blätter verteilten sich auf dem Boden. »Sie studiert!«, sagte er in erstauntem Tonfall zu dem Kleineren. »Weißte denn nich, dass alles vorbei is?« Und er fuhr sich mit der Hand über den Hals, mit der Handkante. Dann hob er meinen iPod und die Geldbörse auf, stopfte sie in den Rucksack und schulterte ihn. Dem Ringhefter versetzte er einen Tritt, sodass die Seiten durch die Luft flogen. Offenbar hatte ich geschrien, denn er wandte sich wieder mir zu und näherte sein Gesicht dem meinen, bis ich die schmutzigen Hautporen an der Seite seiner Nase erkennen konnte, und flüsterte: »Blöde Fotze!« Dann schubste er mich.
    Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, waren sie weg. Auf dem Parkplatz sammelte ich die durchnässten Blätter meiner Kursarbeit auf. Ich merkte erst dann, dass ich weinte, als eine Frau aus dem Blockbuster kam und mich in den Arm nahm. »Komm rein und wasch dich, Schätzchen. Wir haben schon vor einer halben Stunde die beschissene Polizei gerufen. Die ist nie da, wenn man sie braucht.«
    Im Blockbuster waren drei Angestellte. Offenbar hatten sie abgeschlossen und das Licht ausgeschaltet, als sie die Bande an der Busstation bemerkten. Ich glaube, sie hatten ein schlechtes Gewissen, denn eine der Frauen fuhr mich nach Hause.
    Hinterher hatte ich mehr Angst als in dem Moment, als es geschehen war – der Junge hätte auch ein Messer haben können. Ständig las man in der Zeitung von Mädchen, die von Banden entführt wurden. Das war eines der Dinge, denen die Straßensperren entgegenwirken sollten – Terroristen, Selbstmordbomber und Banden. Vor allem aber behinderten sie den Verkehr. Mum und Dad machten ein großes Aufheben, und ich nahm ein Bad und trank Tee, dann sah ich mit ihnen fern und nahm mir eine Wärmflasche mit ins Bett. Aber ich musste das Licht anlassen. Ich fragte mich, ob es noch schlimmer kommen könne. Ich kam mir so nutzlos vor, so ohnmächtig, als wäre ich durchsichtig.
    Wie ich so an die Decke starrte, rief Sal an. Sie hatte ebenfalls schlechte Neuigkeiten zu vermelden.
    »Wo bist du?«
    »Wir sind noch in Birmingham. Mein Cousin Tom wurde entführt.« Tom war der Jüngste, er war gerade mal zwei. Sein Dad – Sals Onkel – wollte ihn nach der Arbeit von der Kita abholen, doch Tom war bereits abgeholt worden.
    »Wer war das?«
    »Das wissen wir nicht. Eine junge Frau mit rotem Haar. Sie hat gemeint, sie wäre die Freundin seines Vaters.«
    »Und das haben sie nicht überprüft?«
    »Sie haben ein Passwort-System. Wenn man sein Kind nicht selbst abholen will, muss man sich das Passwort des Tages geben lassen und es der betreffenden Person mitteilen.«
    »Und die Frau kannte das Passwort?«
    »Ja. Das wirft ein schlechtes Licht auf die Beschäftigten. Das ist schon der zweite Vorfall dieser Art.«
    »Aber warum?«
    »Warum? Was glaubst du? Die Leute wollen Babys haben!« Sie schimpfte über die Polizei, über die Art und Weise, wie sie die Kita-Mitarbeiter verhört und ihre Wohnungen durchsucht hatte, wobei sie so wie früher klang. Ich sagte an den passenden Stellen Ja und Nein und tut mir leid, aber ich fühlte mich benommen und müde, als hätte man mich bis zu den Augäpfeln mit grauem, matschigem Eiswasser abgefüllt, das mich von innen her erfrieren ließ. Ich war müde. Ich hatte Angst. Mir war eiskalt.

Mittwochmorgen
    I ch erinnere mich noch deutlich an das Gefühl. Ich will mich nie wieder so fühlen, egal, was er tut. Nie wieder will ich alle Hoffnung verlieren, das gelobe ich. Nie wieder will ich diese Ohnmacht empfinden.
    Damals war es Dad, der mich herausholte. Das ist die furchtbare Ironie bei dem Ganzen. Dad half mir, aus dem tiefen Loch zu kriechen, und zeigte mir den Lichtschimmer, dem ich folgen konnte. Dad machte mir klar, dass es doch Hoffnung gab.
    Er gab mir die Freiheit zurück, und jetzt will er sie mir rauben. An einem Tag wie heute bin ich nicht zornig, sondern bedaure ihn. Ich habe solches Mitleid mit ihm und Mum, dass mir die Tränen kommen. Aber wie soll ich ihnen das klarmachen? Bei meinem letzten Versuch wurde Dad wütend. Vielleicht kann ich mehr nicht erreichen. Wenn er wütend ist, ist er wenigstens nicht traurig. Ich sagte ihm, ich habe kein Recht, zornig zu sein – und das habe ich auch nicht. Das ganze Unheil gehe von mir aus. Seine Reaktion sei nur verständlich. Dann aber sagte er, ich sei

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