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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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war. Was hat sie damit gemacht? Ich wünschte, sie hätte ihn hängen lassen.
    Die Tapete hat eine blasse Cremefarbe und war früher mal gelb. Sie hat ein schwaches Fleckenmuster, das man nicht recht erkennen kann. Heute Morgen aber schien ein paar Minuten lang die Sonne, und da leuchteten der rosafarbene Teppich und die gelben Wände, und ich fand mein Gefängnis richtig schön!
    Der Ausweg besteht im Lügen. Das geht mir durch den Kopf. Wenn er das nächste Mal reinkommt, sollte ich sagen: »Okay. Du hast gewonnen. Ich werd’s nicht tun.«
    Das sollte ich vielleicht ein bisschen ausschmücken. Mich reumütig geben oder so tun, als wäre es mir wie Schuppen von den Augen gefallen oder als wäre mir das Herz gebrochen, und ich hätte resigniert. Ihn davon überzeugen, dass ich es mir anders überlegt habe – dann würde er mich freilassen. Und dann könnte ich tun, was ich für richtig hielte.
    Diesen Gedanken wälze ich im Kopf herum, und ich weiß nicht, weshalb ich es nicht fertigbringe. Fürchte ich, er würde mich durchschauen? So wie früher, wenn wir Lügendetektor spielten. Manchmal schlug ich entlegene Fakten bei Wikipedia nach; der Faden des Kokons einer Seidenraupe ist anderthalb Kilometer lang. Richtig! Eine Schnecke legt fünfzehn Meter in der Stunde zurück. Falsch! (Zu langsam.) Der Quell aller Weisheit kennt alle Antworten. Aber er wusste auch Dinge, auf die es im Internet keine Antwort gab: Ich habe gerade Schokokuchen bei Sal gegessen. Falsch! Er merkte es, wenn ich log.
    Ich bin kein Kind mehr. Wenn ich in die Einzelheiten gehe und zu planen anfange, macht sich ein hartnäckiger Widerstand bemerkbar. Ich will nicht lügen. Weshalb sollte ich? Wenn er mich zum Lügen zwingt, hat er gewonnen. Ich möchte, dass er versteht , was ich tue, und es akzeptiert.
    Diesen Gedankengang durchlaufe ich immer wieder, während ich an den Wänden entlangschlurfe, vom Fenster zur linken Ecke, dann an der Wand entlang, wo sich der dunkelgelbe Umriss des alten Spiegels abzeichnet wie das Gespenst eines zweiten Fensters; dann zur Tür und zum schmierigen Lichtschalter, wobei ich darauf achte, dass ich mir nicht den Zeh an der in die Scheuerleiste eingelassenen Steckdose stoße. Dann fangen die nackten Holzdielen an; um die Ecke herum und vorsichtiger weiter wegen der Splitter, zur nächsten Ecke und dann auf den Teppich und wieder zurück zum Fenster und zum Heizkörper. Ich schlurfe möglichst viel herum, denn ich will meinen Kreislauf in Schwung halten, damit ich mich auf ihn stürzen kann, wenn sich eine Gelegenheit bietet.
    Warum ist es okay wegzulaufen, aber nicht zu lügen?
    Ich dürfte nicht gezwungen sein zu lügen. Das ärgert mich. Ich höre, wie er die Haustür öffnet und weggeht. Seine Schritte auf den Pflastersteinen des kleinen Vorgartens. Das Klirren des Tors. Es ist hier so ruhig, so still. In gewisser Weise bereitet er mich vor. Verlangsamt mich; schränkt mich ein; wirft mich auf mich selbst zurück.
    Vielleicht ist das nötig. Das denke ich manchmal. Vielleicht ist es nötig, dass ich das durchmache, vielleicht war es mir so bestimmt. Damit ich in vollem Bewusstsein handeln kann, anstatt nur aus dem Bauch heraus.
    Vielleicht sollte ich gar nicht kämpfen und mich wehren, sondern jeden Schritt so annehmen, wie er sich ergibt, und darauf vertrauen, dass er mich weiterbringt.

10
    Als ich von einem wissenschaftlichen Vortrag heimkomme, berichtet Dad meiner Mum gerade von einem wundervollen Durchbruch. Ich höre ihre erhobenen Stimmen, als ich die Haustür aufmache. Mum meint, es werde nicht funktionieren, und er sagt, sie begreife nicht, worum es gehe. Auf dem Tisch stand Wein, und er bot mir davon an.
    »Trink ein Glas mit uns, es gibt etwas zu feiern, Jessielein!«
    »Was denn?«
    »Es gibt einen Impfstoff!«
    »Aber das bringt nichts …«, warf Mum ein, und er machte »Psst!«. Sie begann zu kichern, und nach einer Weile fiel er ein. Ich mochte es nicht, wenn sie getrunken hatten, und meinte, er solle mir am nächsten Morgen berichten. Als ich nach oben ging, lachten sie wie Hyänen.
    Am Morgen war er immer noch aufgekratzt. Mum war schon früh zum Theater gefahren, und er tanzte mit einem Holzlöffel durch die Küche. Er gab mir eine Schale Porridge und fragte, ob ich die gute Neuigkeit hören wolle. Man habe einen Impfstoff gegen MTS entdeckt.
    »Aber was nutzt das? Sind nicht schon alle Menschen infiziert?«
    »Man kann Embryos damit impfen.«
    »Embryos?«
    »In aller Welt sind

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