Das Testament der Jessie Lamb: Roman
der neuen Formel, von der er und seine Kollegin glauben, sie sei der erste Schritt zu einem Heilmittel. Er stellt ein Glas Pflaumenmarmelade in den Einkaufskorb und hat plötzlich eine Eingebung. Aufgeregt ruft er seine Kollegin an. Sie findet, er könnte recht haben, und sie kommen überein, gleich am nächsten Morgen die Forschung anzupassen.
Alle sind in Bewegung. Wir nehmen unsere Beschäftigungen ebenso wichtig wie Hunde, welche die Straße entlangtrotten. Niemand kann sagen, wer etwas Besonderes ist und wer nicht. Alle Geschichten müssen weitergehen. Immer weiter, bis zu den Kindeskindern.
Dad hat von Angst gesprochen. Er begreift nicht, warum ich mich nicht fürchte. »Angst gleicht dem Schmerz, sie gehört zum Warnsystem unseres Körpers. Sie lehrt uns, uns vor uns selbst zu schützen.« Ich habe ihm erwidert, ich würde mich deshalb nicht fürchten, weil ich weiß, was passiert. Man wird mir eine Spritze geben, und dann schlafe ich ein. Was gibt es dabei zu fürchten? »Wenn Menschen hingerichtet werden, wissen sie auch, was passieren wird, und doch haben die meisten Angst davor«, entgegnete er. Ich sagte, diese Menschen wären mit ihrem Tod nicht einverstanden. Denk mal an die Selbstmordattentäter, die zeigen keine Angst. Sie müssen sich auf das konzentrieren, was sie tun, dass sie in die Nähe des Gegners gelangen und den Sprengstoff ungehindert zünden können. Die müssen wirklich tapfer sein. Ich brauche mich nur umsorgen zu lassen, ich brauche mir keine Sorgen darüber zu machen, dass etwas schiefgehen und dass ich entdeckt werden könnte. Ich habe keinen Grund, mich zu fürchten.
Mein Vorhaben bewirkt, dass er sich elend und alt fühlt, er schrumpft zusammen, und die dunklen Ringe unter seinen Augen reichen bis zu den Wangen. Und als ich Mums kreidebleiches Gesicht und ihre verweinten Augen sah, kam ich mir vor wie ein Folterknecht. Ich weiß, ich habe ein paar fiese Sachen über sie geschrieben, auch dumme, kindische Sachen. Aber das ist jetzt die einzige Möglichkeit für mich, mich ihnen verständlich zu machen. Deshalb lege ich eine Notiz bei und erlaube ihnen, meine Aufzeichnungen zu lesen. Ich hoffe, das ist in deinem Sinn. Mum? Dad? Ein Gruß von Jessie! Stellt euch vor, ich lehne mich aus einem Zugfenster und werfe euch eine dicke Kusshand zu!
Ich habe über das Sterben nachgedacht. Ich dachte an ein Feuerwerk. An den Moment, nachdem eine Rakete explodiert ist. Was passiert dann mit der Flugbahn? Ich meine nicht den verbrannten Rumpf und den Holzstock, die zur Erde fallen, sondern die Flugbahn der aufsteigenden Rakete. Wenn man mit einem Stift vom Explosionsort aus eine Linie zieht, immer höher und höher, in einem Bogen ins All hinaus? Oder was passiert am Ende einer CD? Wenn man die Musik angehört hat und das Stück zu Ende ist. Kennst du das Geräusch, das man dann hört, die aufgezeichnete Stille am Schluss? Irgendetwas geht weiter. Etwas anderes als das Musikstück.
Liebste Rae,
das ist wirklich meine letzte Aufzeichnung, denn es ist vier Uhr morgens, und heute werde ich getestet, und wenn alles okay ist, wird man mich auf der Station behalten. Um acht bringt man mich nach unten. Ich habe hier am Fenster gesessen, und es ist so wunderschön, dass ich dir davon erzählen muss. Der Himmel ist wolkenlos, und bis zum Vollmond sind es nur noch ein paar Tage, schätze ich. In den Morgenstunden war kein Verkehr, es war ganz ruhig und still. Wegen der Straßenlaternen kann man die Sterne nicht sehen, aber man sieht den Mond, der allein für sich am Himmel steht. Die erleuchteten, menschenleeren Straßen wirken geheimnisvoll und einladend, als warteten sie darauf, dass alles von Neuem beginnt und die Welt erwacht.
Ich habe übers Fliegen nachgedacht. Oft habe ich mich darüber beklagt, dass Mum und Dad fliegen wollten, aber ich muss dir gestehen, dass ich es geliebt habe! Ob man in deiner Welt noch fliegen wird? Der Flug, an den ich dachte, fand im Winter vor MTS statt. Ich unternahm mit Mum und Dad einen dieser günstigen Städtetrips.
Es war Abend, um fünf war es fast schon dunkel, und es gab nur ein paar kleine Wolken. Ich saß am Fenster. Als wir abhoben und hochstiegen, schaute ich zu den Lichtern hinunter. Wir flogen über Manchester hinweg, und ich konnte die einzelnen Lichter der Häuser, die Reihen der Straßenlaternen und die vertikalen Rechtecke der Hochhäuser erkennen. Ich sah die flutlichterhellten Fußballplätze und ein leuchtendes, verschwommenes blaugrünes
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