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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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marschierte über das Spielfeld zurück und wäre am liebsten im Erdboden versunken.
    Ein seltsamer Gedanke stahl sich in meinen Kopf. Er betraf Baz. Ich überlegte, weshalb nie etwas zwischen uns passierte, obwohl ich den Eindruck hatte, es könnte jeden Moment dazu kommen. Aber warum hatte er mich dann gefragt, ob Iain mich geküsst habe? Weshalb sollte ihn das interessieren?
    Auf der Heimfahrt im Bus teilte Sal mir mit, sie wolle sich FLAME anschließen.
    »Die sind ein bisschen radikal«, meinte ich.
    »Meinst du nicht, es wäre an der Zeit, sich zu radikalisieren? Millionen Frauen sind gestorben, und es gibt immer noch kein Heilmittel. Wenn wir uns jetzt nicht radikalisieren, wann dann?«
    Ich überlegte, ob ich ihr von den Frauenärzten erzählen sollte, die im Labor meines Dads arbeiteten, und von den unfruchtbaren Frauen, die in die Klinik gingen und froh waren über die IVF, die sie sich wünschten . Dabei hörte ich im Kopf die Stimme meines Dads, der alles zerpflückte, was Gina sagte. Ich glaubte nicht, dass sie recht hatte. Aber vielleicht irrte ich mich. Weshalb musste ich immer meinem Dad glauben?
    Ich schämte mich, als wäre Sal älter und wüsste mehr als ich, weil sie schon mehr erlebt hatte. Als hätte ich kein Recht, ihr zu widersprechen oder sie beeinflussen zu wollen. Zweifellos wusste sie, wie mir zumute war, und das ärgerte mich; sie wollte keine Anteilnahme und kein Mitgefühl, sie wollte einfach nur, dass niemand davon erfuhr. Sie war wütend auf mich, weil ich davon wusste, aber natürlich war uns klar, dass ich nichts dafür konnte. Wir konnten uns beide nicht normal verhalten.
    Die Äußerungen der FLAME -Frauen brannten sich in mein Hirn, wie wenn ich beim Aufwachen Mum und Dad streiten hörte. Hat man einmal etwas in sich aufgenommen, wird man es nicht wieder los. Es wird zu einem Teil von einem, es arbeitet wie der Hefeteig, den Sal und ich einmal am Wochenende gemacht haben. Man deckt ihn zu und lässt ihn stehen, und er geht auf und verändert die Form. Er wird immer größer, bis er sich in etwas ganz anderes verwandelt hat.

Diens t ag
    J edes Mal, wenn er den Raum betritt, sieht er mich erwartungsvoll an. Als hoffte er darauf, ich wäre zur Vernunft gekommen.
    Ich habe beschlossen, nicht mehr mit ihm zu reden. Wenn er mir etwas zu essen oder zu trinken bringt, sagt er Sachen wie zum Beispiel »Komm schon, Jess, lass gut sein« oder »Lass uns darüber reden, einverstanden?«. Dann schaue ich entweder weg oder starre seinen Scheitel an, wie damals in der Schule, wenn wir einen Lehrer ärgern wollten. Diesmal sagt er: »Weißt du, dass du es mir damit leichter machst? Du verhältst dich wie ein schmollendes Kind. Dann spiele ich halt den erbosten Dad.«
    Es juckt mich, ihm zu entgegnen: »Das tust du sowieso.« Aber die Genugtuung gönne ich ihm nicht. Als er rausgeht, auf dem Treppenabsatz stehen bleibt und horcht, was ich mache, rühre ich mich nicht und spitze nur die Ohren. Ich hoffe, er schämt sich.
    Wenn er hereinkommt, schaltet er immer das Licht ein, und wenn er weg ist, schlurfe ich zum Schalter und schalte es aus.
    Ohne Licht wirkt der Raum größer mit seinen Schattenrändern, und das weiche Grau, das durchs Fenster fällt, zeichnet sich als helleres Rechteck auf dem Boden ab. Im Laufe des Tages wandert es von meinem Schlafsack zur Mitte des Teppichs. Meine Augen gewöhnen sich ans Dämmerlicht. Ich habe das Gefühl, die Lichtstrahlen dort draußen anzuziehen und sie gierig aufzusaugen; sie zu nutzen, so wie ein Feuer Luft ansaugt, um die Flammen zu nähren.
    Den Raum kenne ich durch und durch. Die nackten Holzdielen entlang der rechten Wand, dort, wo früher das Bett und der Schrank standen. (Das Bett hat Abdrücke von zwei Füßen auf dem verstaubten rosaroten Teppich hinterlassen. Die Abdrücke sind tief und rechteckig, und der Teppich ist an dieser Stelle dunkelrosa, wie der Gaumen.) An der Tür ist der Teppich abgetreten, und das gelbe Gewebe scheint durch. Die Glühlampe, die in der Mitte des Raums an einem braunen Kabel von der Decke hängt, ist ein altmodischer Energieverschwender. Wenn sie nicht brennt, kann ich erkennen, dass die Fassung verrostet und fleckig ist. Ich dachte immer, Glühbirnen halten nur ein paar Monate, aber die hier hängt schon seit Jahren.
    Über dem Fenster ist eine Gardinenschiene aus weißem Plastik angebracht. Ich frage mich, weshalb Mum den Vorhang abgenommen hat. Ich weiß noch, dass er mit rosafarbenen und gelben Blumen gemustert

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