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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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vergegenwärtigen, nachzuerleben, in Worte zu fassen. Denn es wird der Beweis dafür sein – nicht wahr? –, dass du aus freien Stücken handelst. Der Beweis, dass ich, Jessie Lamb, bei gesundem Verstand und in bester Gesundheit, die volle Verantwortung für meine Entscheidung übernehme und beabsichtige, die Konsequenzen zu tragen.
    Ich unterstreiche meinen Namen im Notizbuch. Die Frage ist, wo soll ich anfangen? Mit meinem eigenen Anfang, schätze ich; mit dem Tag meiner Geburt.
    Aber ich werde nicht alle meine sechzehn Lebensjahre schildern!
    Nein, aber ich muss mit dem Anfang beginnen. Bevor der furchtbare Druck in meinem Kopf mich zwang, etwas zu tun. Irgendetwas zu tun, damit ich nicht zerspringe. Ich musste herausfinden, worin meine Bestimmung lag.
    Ich werde es aufschreiben, alles, was geschehen ist, ich werde es vollkommen wahrheitsgemäß schildern, damit am Ende kein Zweifel mehr darüber besteht, jedenfalls nicht in meinem Kopf, was ich tun will und warum.
    Das Testament der Jessie Lamb.

1
    Früher war ich so unstet wie eine Feder im Wind. Ich dachte, die Sachen in den Nachrichten und Zeitungen wären für Erwachsene. Das war ein Bereich ihrer dummen, erbärmlichen, komplizierten Welt, der mich nicht interessierte. Ich erinnere mich, dass ich eines Abends am Fußgängerüberweg hinter Roaches auf dem Zaun saß, zusammen mit Sal, Danny und ein paar anderen. Es war dunkel, zumal beiderseits der Schienen, denn die Erika auf dem Damm war verbrannt. Wir schauten hinunter auf die erleuchteten Fenster des Gasthofs im Tal und die kleinen gelben Augen der Autos auf der Straße. Außer uns waren alle drinnen, und wir saßen dort oben in der windigen Nacht, gegenüber der schwarzen Fläche des Moors auf der anderen Talseite.
    Ein Zug sauste vorbei, unterwegs nach Huddersfield, und der heiße Luftschwall hätte uns fast vom Zaun geweht. Danny meinte, wir sollten ein Stück weit auf den Schienen gehen, wie auf einem Seil balancieren und gucken, wer am weitesten käme. »Wenn ein Zug kommt, springt einfach runter«, sagte er. »Es kommt nur einer jede Stunde.« Sal kletterte vom Zaun hinunter und balancierte mit ausgestreckten Armen über die Schiene. Ich konnte sie kaum erkennen, sie zerrann in der Dunkelheit, und ich war mir nicht sicher, ob sie ihre Ausgleichsbewegungen übertrieb oder ob ich sie nur nicht von der Dunkelheit unterscheiden konnte. Sie schimpfte, und da wusste ich, sie war gefallen, und dann probierten es auch die anderen, und wir zählten laut im Chor. »Eins und zwei und drei und Raus !«, und warteten ab, wer es als Erster bis zehn schaffen würde.
    Als ich an die Reihe kam, konnte ich die Schiene nicht mal sehen, spürte sie aber durch die Schuhsohlen hindurch. Ich fand das Gleichgewicht und schaute auf die grüne Signalleuchte in der Ferne. Ich hatte eine Art Tosen in den Ohren. Ich weiß nicht, war es der Wind auf dem Damm oder das Geschrei und Gelächter der anderen. Aber ich hatte das Gefühl, alles wäre möglich, buchstäblich alles, und mir könnte nichts geschehen. Ich dachte, wenn ich zwanzig Schritte schaffen würde, wäre das der Beweis. Mit dem einundzwanzigsten Schritt hüpfte ich von der Schiene, und als ich auf den Zaun kletterte, kam von hinten ein Zug aus der Dunkelheit herangerast und stieß einen ohrenbetäubend lauten Pfiff aus. Und da kam mir der Gedanke: Ich könnte MTS heilen. Ich hätte die Macht, alles wieder in Ordnung zu bringen. Aber weil mich niemand darum bat, würde ich es sein lassen.
    Das ist so wie mit den blöden Sachen, die man glaubt, wenn man noch sehr klein ist, wie zum Beispiel, man könne fliegen. Ich glaubte das jahrelang, aber niemand durfte davon erfahren. Wenn ich jemandem davon erzählte oder es vorführte, würde ich die Fähigkeit verlieren. Und wenn ich daran zweifelte oder es ausprobierte, würde ich die Fähigkeit ebenfalls verlieren – deshalb ließ ich es sein. Ich glaubte daran. Ich wusste, wenn es darauf ankam, würde ich fliegen können. Glücklicherweise trat der Fall niemals ein.
    Ich erinnere mich an Vorkommnisse, deren ich mich schäme. Einmal fuhr ich mit Mum und Dad vom Wohnwagen, der in Scarborough stand, nach Hause, und die Straßen rund um York waren alle verstopft, weil im Dom eine Massentrauerfeier stattfand. Dad hatte vergessen, sich online zu informieren. Und ich brannte darauf, nach Hause zu kommen und Sal anzurufen. Wir standen zwei Stunden lang im Stau. Und ich schaute mir die armen Leute in den Autos an und sagte: »Wieso
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