Das Testament des Satans
auf und kracht gegen die Wand.
Das Getöse hallt wie Donner durch das Gewölbe des Scriptoriums.
Ich halte den Atem an und lausche auf Geräusche im Kreuzgang über mir, aber alles bleibt ruhig. Keine Schritte, keine aufgeregten Schreie. Die Mönche, erschöpft von den nächtlichen Stundengebeten, haben einen gesegneten Schlaf.
Durch ein hohes Fenster nach Westen fällt mattes Licht in den winzigen Raum, der bis unter die Decke vollgestopft ist mit gebundenen Akten aus Pergament und Papyrus. Eine gewisse Ähnlichkeit zum vatikanischen Geheimarchiv lässt sich nicht leugnen – was die Unordnung betrifft, gegen die auch Vittorino als päpstlicher Archivar in den vergangenen zwei Jahren nicht ankommen konnte. Dieselbe stickige, staubige Atmosphäre, die ich schon in anderen Klosterarchiven wie dem der Abtei Montecassino gespürt habe, der Eindruck einer Gruft, wo die Vergangenheit der Abtei begraben … nein, verschüttet liegt.
Überall stapeln sich Codices, zerknickte Pergamentrollen und zerfallende Papyri, sogar auf den Stufen der schmalen Wendeltreppe. Ich fühle, wie mir die Zeit zwischen den Fingern verrinnt, als ich wahllos in den Dokumenten stöbere. Schicht um Schicht grabe ich mich durch das Sediment der Vergangenheit aus Papyrus und Pergament.
Schließlich finde ich hingekritzelte Aufzeichnungen zu den geheimnisvollen Todesfällen der letzten Jahrzehnte. Zu einer rätselhaften Krankheit, die einigen Mönchen den Tod gebracht hat. Und zu grausamen Morden mit zerfetzten Leichen, die von satanischen Zeichen aus Blut umgeben waren. Aber ich finde keinen Hinweis auf das Testament des Satans.
Dafür aber eine Randbemerkung: ›Aufzeichnungen auf Befehl des Priors abgebrochen, 14. Dezember 1446.‹ Und darunter: ›C. weiß mehr, als er zugibt. Kennt er den Mörder?‹
Vor drei Jahren! Der Chor und die Krypta waren 1421 eingestürzt, werden jedoch wegen der jahrzehntelangen Belagerung des Mont-Saint-Michel während des Hundertjährigen Krieges erst seit 1446 wieder aufgebaut.
Wieder lasse ich den Blick durch den kleinen Raum schweifen. Es ist hier drin, flüstert mir die leise Stimme in meinem Inneren zu, während ich die schmale Wendeltreppe hinaufblicke. Es muss hier drin sein, das spüre ich. Es wartet darauf, dass ich es finde.
Dann sehe ich es: Auf einer breiten Stufe auf halber Höhe hinauf zum Kreuzgang steht eine Truhe, zwei Ellen breit.
Als ich hinüberhuschen will, stolpere ich über eine unebene Bodenfliese. Sie ist dunkler als die anderen Granitplatten und passt nicht genau. Und sie scheint flacher zu sein, daher bin ich an der Kante hängengeblieben. Ist sie nachträglich eingefügt worden?
Mein Blick fällt auf eine zerborstene Steinfliese, die vor dem Fenster auf dem Boden liegt. Die beiden Hälften sind mit einem gusseisernen Krampen zusammengeflickt worden.
Wie ist denn das passiert? Na, egal.
Ich steige die Stufen hinauf zur Truhe, die ich eben entdeckt habe. Und, siehe da, sie ist verschlossen! Na, wenn das nicht ist, wonach ich suche.
Ich ziehe meinen Dolch, hebele das alte Schloss auf und spähe in die Lade. Ein uralter Kodex, in rotes Leder gebunden, kein Titel. Ich hebe ihn heraus und schlage ihn auf. Auf der ersten Seite erkenne ich das Wappen der Abtei: zehn silberne Saint-Jacques-Muscheln, darüber drei goldene Fleurs-de-Lys. Die Klosterchronik – wer sagt’s denn!
Ich gehe die Wendeltreppe wieder hinunter, kehre ins Scriptorium zurück, wuchte den Folianten neben meinem Notizbuch auf das Lesepult und rutsche auf die unbequeme Holzbank.
Die Handschrift ist ein Purpurkodex, die Pergamentseiten aus fein geschliffenem Vellum sind mit kostbarem Purpur eingefärbt, die Schrift ist in schimmerndem Gold ausgeführt. Die Illuminationen stammen, da bin ich mir sicher, aus dem elften oder zwölften Jahrhundert. Sie sind auf Blattgoldhintergrund gemalt. Was für eine Pracht! Warum wird dieser Schatz weggeschlossen?
Fasziniert betrachte ich die Bilder, die die Gründung der Abbaye du Mont-Saint-Michel durch Saint-Aubert, den heilig gesprochenen Bischof von Avranches, darstellen. Besonders schön finde ich das Bild, wo sich Saint-Michel mit mahnend erhobenem Finger über den schlafenden Bischof Aubert beugt – fast wie in einer biblischen Verkündigungsszene.
Der Erzengel befiehlt Aubert, auf dem Mont Tombe, mitten in der Bucht, ein Sanktuarium zu errichten. Der Bischof zögert jedoch, dem Wunsch zu entsprechen. Saint-Michel, nicht gerade bekannt für seine sprichwörtliche
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