Das Testament des Satans
mich wieder dem aufgeschlagenen Folianten zu, in dem ich bis eben geblättert habe.
Eine kostbare Chronik mit herrlichen Illuminationen, aber kein Hinweis auf das Testament des Satans, kein Wort, nichts.
Als ich mich von der Bank erhebe, um das Buch ins Regal zwischen zwei Pfeilern an der Seitenwand des Scriptoriums zurückzubringen, spüre ich, dass ich nicht mehr allein bin.
Bedächtig schiebe ich die herrliche Klosterchronik, die Chronique de l’Eglise du Mont-Saint-Michel, an ihren Platz zurück, halte den Atem an und lausche. Außer dem Tosen des Windes kann ich nichts hören.
Das Schluchzen ist verstummt.
Mit dem Rücken an das Bücherregal gelehnt, ziehe ich die Schultern hoch, spähe um die Ecke der Nische und sehe mich im Scriptorium um, in das nur von meiner Kerze auf dem Lesepult ein wenig Licht fällt. Feine Staubteilchen, die wie aufgewirbelter Goldstaub schimmern, wehen den Geruch nach Pergament, Tinte und Leder durch den weiten Raum.
Die Mitte des dreischiffigen Saals, des schlichtesten und gleichzeitig imposantesten der Abtei, nimmt eine lange Reihe von hohen Schreibpulten ein. Auf jedem Tisch liegt das Werkzeug der Scriptoren und Illuminatoren: Pergamentbögen, Tintengefäße und Farbtiegel, Lineale zum Ziehen der Zeilenlinien, Bimssteine zum Glätten des Pergaments, kleine Heftchen mit Blattgold, Pinsel, Federn und Federmesser. Auf einigen Tischen liegen auch aufgeschlagene Bücher, die gerade kopiert werden. Sie sind bedeckt von beweglichen Masken aus Pappe oder Leder, die immer nur eine abzuschreibende Zeile freilassen. Alles ist ganz ähnlich wie in meiner Buchwerkstatt an der Piazza del Duomo in Florenz, mittlerweile eines der größten Buchhandelsunternehmen Europas und, wenn ich in einigen Monaten damit beginne, Bücher nach dem neuen Verfahren aus Mainz zu drucken, mit Sicherheit das erfolgreichste.
An der Nordwand des Saals erheben sich zwei große Kamine, die im diffusen Licht wie die aufgerissenen Rachen von Dämonen aussehen …
Ich atme tief durch. Ratlos betrachte ich das Regal mit den Büchern, die ich eben durchgeblättert habe. Die Abbaye du Mont-Saint-Michel ist berühmt für ihre herrlichen Manuskripte. Nicht umsonst wird sie als ›Stadt der Bücher‹ gerühmt, und dieser Nimbus, diese Aura des Frommen und Heiligen, ist hier im Scriptorium zu spüren.
Mehr als zweihundert kostbare Handschriften stehen hier in diesen Regalen, Heiligenlegenden, Werke der Kirchenväter, Kommentare zur Bibel, Gebets- und Predigtsammlungen und die Ordensregel des heiligen Benedikt. Aber auch Abhandlungen über Kirchenrecht, Liturgie, Musik, Astronomie, Medizin, Mathematik, Theologie und Philosophie.
Doch all das ist nur ein kleiner Teil der berühmten Büchersammlung. Im Jahr 1300 stürzte einer der Türme an der Westfassade der Abteikirche ein, in dem die kostbarsten Folianten aufbewahrt wurden. Sic transit scientia mundi – dahin ist das Wissen der Welt!
All diese Bücher im Regal neben mir habe ich eben durchgeblättert. Doch weder habe ich das Testament des Satans gefunden noch einen Hinweis darauf. Aber das habe ich auch nicht erwartet.
Und jetzt?
Die Zeit verrinnt, in eineinhalb Stunden werden die Mönche für die Vigil geweckt. Ich muss mich beeilen.
Mein Blick irrt quer durch den Saal auf die andere Seite.
Entschlossen, aber wenig zuversichtlich, gehe ich zum geheimen Archiv hinüber, das wie ein Schwalbennest in einer Art Turm an der Nordwestecke der Merveille klebt. Den Plänen der Abtei zufolge besteht das Archiv aus zwei übereinander errichteten kleinen Räumen, die durch eine enge Wendeltreppe miteinander verbunden sind. Der eine Zugang befindet sich in der Westmauer des Scriptoriums, der andere unter den Arkaden des Kreuzgangs in der obersten Ebene der Merveille. In diesen Räumen werden die Schätze des Klosters und die wichtigen Dokumente aufbewahrt.
Neben der Tür steht ein gusseiserner Kerzenständer. Die acht Dornen sind leer, die dicken weißen Kerzen liegen verstreut auf dem Boden vor dem Archiv. Eine der Kerzen ist sogar über die Steinfliesen bis hin zu den Schreibpulten gerollt. Wie seltsam!, denke ich und rüttele an der Tür zum Archiv.
Sie ist verschlossen.
Mit der Schulter werfe ich mich dagegen, doch sie bewegt sich nicht. Ich weiche einige Schritte zurück bis zu einem der Kamine, nehme Anlauf und trete mit meinem Stiefel gegen das Holz. Kreischend schrammt der metallene Riegel über den Stein. So geht’s! Ein erneuter Tritt, dann schwingt die Tür
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